„Ein Ossi hätte mich nicht gefragt, ob ich mal eben seine Bockwurst halten kann.“
(Zitat „Heimatkunde“)
Mit Sicherheit. Jeder ist auf eine andere Weise sozialisiert. Bei all dem Gerede über die uneingeschränkte Macht der Gene, die uns zu dem machen, was wir sind, wird der Faktor, den die Umwelt bei der Entwicklung spielt, meist unter den Tisch fallen gelassen. Doch, so scheint es, ist die politische, ökonomische oder familiäre Umgebung überaus entscheidend dafür, was von dem Potential an Möglichkeiten dann wirklich realisiert wird. Wie beständig solche Eigenheiten, sind sie erst einmal ausgebildet, sein können, auch wenn sich die Umwelt bereits verändert hat, kann man exemplarisch an der Situation in Deutschland nach der Wiedervereinigung sehen. Nach wie vor schlägt sich nicht nur in den Statistiken ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Teilhälften des Landes nieder. Fast wie eine soziologische Studie tritt die Dokumentation „Heimatkunde“ von Andreas Coerper und Martin Sonneborn auf. Von neutraler Objektivität ist jedoch keine Spur in dem satirischen Werk, dessen Hauptdarsteller, der ehemalige Chefredakteur des „Titanic“-Magazins, Sonneborn, sich auf eine 250 Kilometer lange Reise rund um Berlin begibt.
Genau 18 Jahre nach dem Fall der Mauer, die Deutschland in zwei Hälften geteilt hat, unternimmt Martin Sonneborn einen Fußmarsch rund um Berlin. Gleich einem Naturforscher, will er in dieser Grenzregion untersuchen, wie sich das Leben nach dem politischen Umsturz entwickelt hat. In ständiger Begleitung eines kleinen Kamerateams macht er so die Bekanntschaft mit allerhand skurrilen Gestalten, die in den Vororten von Berlin, beziehungsweise dem benachbarten Brandenburg wohnen. Das Spektrum dabei ist enorm. Vom einfachen Nudisten, dessen prekäres Hobby zu Meinungsverschiedenheiten mit den Nachbarn geführt hat und er deswegen von nun an die Abgeschiedenheit einer alten Brücke mitten in der Natur sucht, bis hin zu einem Auffanglager für Asylbewerber zeigt sich ein breit gefächertes Panorama der Artenvielfalt…
Letztlich ist die Idee, die hinter „Heimatkunde“ steckt, simpel. Man läuft einmal rund um eine Stadt und filmt alles, was auf dem Weg so passiert. Der Weg, den Wanderer Sonneborn dabei um die deutsche Hauptstadt nehmen musste, war mit das Einzige, was im Vorfeld recherchiert und festgelegt worden war. Ein Drehbuch gab es in dieser Hinsicht also nicht. Durch dieses lose, offene Konzept gewannen die Filmemacher Andreas Coerper und Martin Sonneborn, die sich als Zweiergespann den Namen SMAC geben, die Freiheit, mit einer fast kindlichen Spontaneität die Welt des ehemaligen Grenzstreifens zu entdecken. Im Film schlägt sich das insofern nieder, dass man immer wieder den Eindruck hat, ein kleines Abenteuer mitzuerleben. Dies ist jedoch nur einer der Gründe, weshalb sich das einfache Konzept von „Heimatkunde“ nicht nach einer halben Stunde erschöpft.
Der österreichische Publizist und Kulturkritiker Karl Kraus hat einmal gesagt: „Die Satire konnte dem Leben keuchend nicht mehr nachkommen – jetzt jagt das Leben hinter der Satire einher. Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß.“ Bei vielen Stationen, die im Verlauf von „Heimatkunde“ angesteuert werden, fragt man sich tatsächlich, wie viel Wahrheit hinter dem steckt, was die Wirklichkeit so zu bieten hat, oder ob es sich nicht schon um Erfindung, um nachgestellte Szenen handelt. Laut der Aussage von Sonneborn ist jedoch in „Heimatkunde“ alles wahrhaftig echt, so kurios es auf den ersten Blick erscheinen mag. So kommt es auch, dass es oft keines Zutuns von Seiten der Filmemacher bedurfte, da sich die Wirklichkeit selbst satirischer zeigte, als jede denkbare Satire es hätte erfinden können. Wer würde denn je auf die Idee kommen, dass sich auf einer ehemaligen Schweine-LPG eine Wohnwagensiedlung mit Althippies ansiedelt, die es sich trotz allen Antispießertums nicht nehmen lassen, bei einem McDonalds-Besuch die dort vorhandenen Toiletten zu benutzen?
Als wohl wichtigstes Element, das „Heimatkunde“ mit einem unverkennbaren Charme bereichert, muss Wanderer, Abenteurer und Forscher Martin Sonneborn bewertet werden. Dieser schafft es, den Menschen, denen er begegnet, die unglaublichsten Dinge zu entlocken, über deren Witz sich diese selbst meist nicht bewusst sind. Inwieweit hier die Grenzen des Humors überschritten werden, mag für manche Betrachter sicherlich diskussionswürdig erscheinen, doch beweist der Film selbst, dass er es nicht von Grund auf böse meint. Die Szenen im Auffanglager für Staatenlose am Rande von Berlin zeigt eigentlich ganz klar, dass es ethische Grenzen gibt, die nicht überschritten werden. Zumindest nicht von den am Film Beteiligten.
Sehr behutsam eingesetzt sind Mittel wie Musik und Kommentare aus dem Off. Besonders Letztere sind jedoch ein unverzichtbares Stilmittel, das wiederum oft für mehr Komik sorgt, als die alleinstehenden dokumentarischen Aufnahmen. Hier kommt bisweilen Sonneborn selbst zum Zuge und reflektiert oder erläutert sein eigenes Verhalten in den jeweiligen Situationen. Auf diese Weise wird offen gelegt, wieviel schauspielerische Anteile in Sonneborns Verhaltensweisen stecken. Ein weiterer Kontext, der dem Film als Ganzem hinzutritt, ihn bereichert, sind die Aktivitäten Sonneborns auf dem politischen Parkett. Letztgenannter bekleidet nämlich den Posten des Parteivorsitzenden der Partei „Die Partei“, die im Jahr 2004 vom „Titanic“-Magazin gegründet wurde. In einem Gespräch nach der Vorpremiere in Berlin bekundete Sonneborn, dass das Unternehmen von „Heimatkunde“ gleichwertig zu sehen sei wie die „Wochenschauen“ der NS-Zeit, und also Wahlkampfmittel für die nächste Bundestagswahl ist. Er witzelte weiter, dass er so die Nähe zum Volk erreichen wollte.
Fazit: Der optisch schmucklos auftretende dokumentarische Film „Heimatkunde“ ist ein echter Angriff auf die Lachmuskeln. Vorraussetzung dafür ist, dass man sich auf den bissigen, satirischen Humor von Martin Sonneborn und Andreas Coerper einlässt. Ist diese Hürde genommen, kann man, neben den vielen komischen Elementen des Films, tatsächlich auch etwas über die eigene Heimat lernen, die sich manchmal nicht weniger satirisch gibt als die Filmemacher selbst.