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    Unschuld
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Unschuld
    Von Christian Schön

    Filme über das Leben der Großstadt zu drehen, reizt Filmemacher fast seit den frühsten Jahren der Filmgeschichte. Die Thematisierung kann auf ganz unterschiedliche Arten stattfinden. Die wohl wichtigsten Vertreter finden sich im Science-Fiction-Genre mit Metropolis und seinen späteren Ablegern wie Blade Runner, Das fünfte Element oder demnächst Babylon A.D., die Fritz Langs Meisterwerk direkt zitieren. Aber auch in ganz anderen Bereichen finden sich Großstadtfilme wie zum Beispiel im Semi-Dokumentarfilm Megacities von Michael Glawogger. Das Drama „Unschuld“ von Andreas Morell hingegen erinnert strukturell an Klassiker wie „Tokyo Monogatari“ von Yasujiro Ozu. Jedoch ist „Unschuld“ in seiner Form noch experimenteller und flicht Lynch-artige Elemente ein. Episodenhaft werden Ereignisse von elf Personen dargestellt, ohne dass der Film jedoch einen richtigen Anfang, einen richtigen Spannungsbogen, noch ein richtiges Ende aufweist.

    Die elf zunächst scheinbar lose aneinander gereihten Episoden erzählen im Kern eine jeweils ähnliche Story: Jeder der Protagonisten ist auf der Suche nach der unschuldigen, reinen Liebe in der seelenlosen Großstadtwelt und macht sich dabei selbst schuldig.

    Alles beginnt mit der Prostituierten Kim (Young-Shin Kim), deren Ziel es ist, von ihrem Zuhälter (Michael Kind) loszukommen, um mit einem Freier, den sie liebt, ein neues Leben in ihrer Heimat anzufangen. Oft fährt sie des Nachts mit dem Busfahrer Raimo (Ronald Kukulies) nach Hause. Der verliebt sich jedoch in ein rätselhaftes, stummes Mädchen (Luise Berndt). Daneben gibt es die Polizistin Simone (Nadeshda Brennicke), die mit Peter (Jevgenij Sitochin) eine eher deflorierende Ehe führt, und deshalb eine Affäre mit dem viel jüngeren Matte (Jacob Matschenz) eingeht. Parallel dazu begehrt Simones Ehemann Peter die junge Türkin Derya (Aylin Tezel), die sich wiederum nichts sehnlicher wünscht, als ihre Unschuld an Popstar Chris (Tobias Oertel) zu verlieren. Chris, selbst in einer Ehe lebend, hält nicht viel von der Idee, obgleich er vor kurzem eine Affäre mit der viel älteren Julia (Leslie Malton) hatte. Julia, die im Berliner Nachtleben ihre Erfüllung findet, hat im normalen Leben nur noch ihren alten Schulfreund, und inzwischen Abgeordneten, Alexander (Kai Wiesinger), dem sie sich offenbaren kann. Alexander plant zu guter Letzt demnächst seine Karriere zu beenden, um mit einer Prostituierten in ihr Heimatland zu fliehen…

    Schon bei dem Versuch, den Inhalt des Films adäquat zusammenzufassen, fallen zwei wichtige Dinge ins Auge. Zum einen verbinden sich die auf den ersten Blick so schicksalhaft verbundenen Geschichten aus „Unschuld“ gar nicht so ohne weiteres. Das namenlose, stumme Mädchen stellt nämlich einen absoluten Nullpunkt im Geflecht dar, der sich mit nichts verbinden lässt. Zweitens, und das ist wohl das Hauptmanko von „Unschuld“, fehlt eine gut funktionierende Dramaturgie, die dem Ganzen zugrunde liegt. Dass viele Erzählstränge insofern miteinander verwoben sind, dass sich einzelne Personen kennen, eine Ehe führen oder sonst wie miteinander in Verbindung stehen, reicht für eineinhalb Stunden Spielfilm bei weitem nicht aus. Das Drehbuch selbst basiert auf dem literarischen Versuch Arthur Schnitzlers mit dem Titel „Reigen“. Dort werden sexuelle Begegnungen von zehn Menschen beschrieben, die insgesamt einen (!) geschlossenen (!) Kreis ergeben. Schnitzler selbst hielt seinen Versuch bereits für „vollkommen undruckbar“, der „literarisch auch nicht viel heißt“ und höchstens ein Dokument ist, das „einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde“. In dieser Hinsicht gleichen sich „Unschuld“ und „Reigen“ tatsächlich.

    Zur Ehrenrettung von „Unschuld“ lässt sich hinter der Strategie der Darstellung aber durchaus Absicht vermuten. Für einen Großstadtfilm wäre diese Methode sogar überaus typisch. Es handelt sich dabei gewissermaßen um die Wiederholung des Immergleichen. Im bereits erwähnten „Tokio Monogatari“ führte das schon, negativ formuliert, zu einem gewissen Maß an Langeweile. Und obwohl „Unschuld“ gerade zu Beginn durchaus ein paar nette, überraschende Ideen bereit hält, ist nach kurzer Zeit klar, wie sich welche Figur verhalten wird, da sich alle Episoden beinahe zwanghaft wiederholen. Auch der Versuch, am Schluss so etwas wie einen Höhepunkt zu erzeugen, scheitert gerade aus dem Grund, dass dieser selbst wiederholt wird. Schon ein paar Szenen zuvor erlebt der Zuschauer aus einer anderen Perspektive den tragischen Moment, ohne jedoch schon zu sehen, was passiert.

    In dieser seltsamen Zeitschleife, die die Vorwegnahme ermöglicht und die sonst linear angeordneten Episoden unterbricht, äußert sich pars pro toto eine stilistische Eigenart, die Morell in „Unschuld“ anwendet. Der Vergleich zu David Lynchs Lost Highway drängt sich fast auf, da ähnliche Mittel verwendet werden. Auch dieser Film zerfällt in zwei Teile, deren Zeiten ineinander gebogen und personell verknüpft sind. Das Moment der Teilung ist zudem frappant ähnlich gestaltet. In beiden Fällen verbindet eine nächtliche, wackelige Kamerafahrt, die über eine Straße führt und bei der kaum etwas zu erkennen ist. Aber auch sonst schwelgt „Unschuld“ in einem an Fetisch grenzenden Nahaufnahmewahn, der einzeln für sich genommen, tolle Aufnahmen bereithält, mit dem der Regisseur es aber zu gut gemeint hat. Dadurch stellt sich schnell der Eindruck ein, dass jedes Detail von unglaublich großer Bedeutung sei. Doch ist bei „Unschuld“ die Darstellungsform eher Mittel zum Zweck, mit der kaum so differenziert gespielt wird, wie das in „Lost Highway“ der Fall ist.

    Bei quasi elf Hauptdarstellern wundert es nun nicht, dass sich viele Nuancen finden lassen. Obwohl sie in ihrem zweiten Film ohne richtige Sprechrolle, und in „Unschuld“ zudem bloß eine zwar wichtige aber doch Nebenfigur spielt, begeistert Luise Berndt nach ihrem Debüt in Jagdhunde aufs Neue. Ebenso überraschend wie positiv ist der Eindruck, den die Debütantin Aylin Tezel hinterlässt. Als grundsolide erscheint die Garde der Schauspieler, die besonders wegen ihrer Erfahrung auf der Theaterbühne bekannt sein dürften. Darunter fallen Young-Shin Kim, die derzeit in der Castorf-Inszenierung „Nord“ in der Berliner Volksbühne zu sehen ist, oder Ronald Kukulies, der fester Bestandteil des Ensembles des Gorki Theater Berlin ist. Die hohe Dichte an Theaterschauspielern ist darauf zurückzuführen, dass die bisherige Karriere von Regisseur Andreas Morell, der mit „Unschuld“ seinen ersten Kinofilm vorlegt, unter anderem im Bereich Oper und Theater verortet war.

    Fazit: Wer sich nun an den angedeuteten, bedeutungsschweren Tiefen der sexuellen Abenteuer der elf Protagonisten nicht weiter stört und die blutleere, mäandernde Erzählweise von „Unschuld“ verzeiht, bekommt immerhin noch eine interessante experimentelle Studie, die „einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchtet“, zu sehen. Die kapriziöse Großstadt hat eben auch ihre langweiligen Seiten.

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