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    Running Wild
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Running Wild
    Von Samuel Rothenpieler

    Der Kampf Gut gegen Böse ist ein Motiv, das sich ausgesprochener Beliebtheit erfreut. Seine Schwarz-Weiß-Darstellung ist fesselnd, auch wenn sie selten der Realität entspricht. In der letzten Zeit ist dieses Motiv jedoch immer mehr zu einem nichts sagenden Stereotyp der Filmwelt verkommen: Zahlreiche westliche Filmproduktionen überstilisierten diese ursprüngliche Metapher meist zu Propagandazwecken im Kalten Krieg. Der gute Westen gegen den bösen Osten. Und immer gab es nur einen Sieger. Die Geschichte gab den „Siegern“ Recht. Südkorea ist ein Land, das für eine ganz eigentümliche Episode im Verlauf des Kalten Krieges steht. Der Korea-Krieg ist sozusagen der Urknall einer Gut-Böse-Klassifikation im Kalten Krieg. Das Land, das heute noch unter dieser Zerrissenheit leidet (geteilt am 38. Breitengrad), ist ein tief zerklüftetes Land. Der kommunistisch-diktatorisch geführte Norden und der kapitalistisch-demokratisch regierte Süden liegen trotz aller diplomatischen Bemühungen immer noch in Feindschaft. Was hat dies nun mit dem Film zu tun? Vordergründig gar nichts. Doch bei genauerer Betrachtung strahlt der Cop-Thriller „Running Wild“ die Seele dieses Konfliktes unweigerlich aus. Ideologiekritisch und philosophisch erzählt Regisseur Kim Sung-soo eine atemberaubende südkoreanische Geschichte über verlorene Gerechtigkeit, menschenverachtenden Kapitalismus und persönliche Tragik.

    Polizist Jang (Kwon Sang-woo), verzweifelt an seinem Leben und aufgewühlt durch die Ermordung seines Halbbruders sucht nach Vergeltung. Er weiß: Das Gesetz kann ihm nicht mehr helfen bei seinem Verlangen nach Gerechtigkeit. Viel zu sehr wurde er von einem System enttäuscht, das bis in die Spitzen seiner Verwaltung in Politik, Wirtschaft und Justiz von Korruption und Verfall geprägt ist. In seiner Entschlossenheit zur Rache schließt er sich dem Vertrauen erweckenden Staatsanwalt Oh (Ji-tae Yoo) an, der die gleichen Ziele verfolgt wie Jang: Der kürzlich frei gelassene Großkriminelle Yoo, der hinter der Ermordung des Bruders zu stehen scheint und unter dem Deckmantel der humanitären Menschlichkeit die politische Macht des Landes an sich reißen will, soll ein für allemal ausgeschaltet werden. Doch die ungleichen Gesetzeshüter stehen sich selbst im Weg. Jang, der brutale, unvernünftige Selbsträcher und Oh, der korrekte und vernünftige Idealist wissen nicht, wen sie herausgefordert haben. Beide finden sich schnell in der Realität eines wahnsinnigen Systems wieder, das kein Interesse an Wahrheit und Gerechtigkeit hat. Ohnmacht macht sich breit unter den beiden; ein von Verzweiflung getriebener Hass endet in der blutigen Auflösung von Gut und Böse, Recht und Unrecht.

    Im Vordergrund von „Running Wild“ steht ein persönlicher Kampf Gut gegen Böse, der Kampf des Einzelnen gegen ein korruptes, unbezwingbares System. Selten in der Geschichte des Films wurde eine Handlung dieser Art so intelligent und allegorisch umgesetzt wie in „Running Wild“. Sie erzählt von Menschen und ihrem persönlichen Leiden in einer Welt, die nach Sinn, Erkenntnis und Gerechtigkeit sucht, sie aber trotz ausharrenden Willens nicht finden kann. Regisseur und Drehbuchautor Kim Sung-soo verdichtet dieses typisch moderne Ohnmächtigkeitsgefühl in einer dramaturgisch ausgefeilten und darstellerisch überzeugenden Geschichte zu einer pessimistischen Endaussage, die mühelos auch auf die westlichen Demokratien übertragen werden kann. Die Resignation vor einem undurchsichtigen, unverständlichen und ungerechten System als modernes Lebensgefühl: Individuen sind nur noch manövrierbare Masse und die Verdinglichung des Menschen für selbstgerechte Zwecke ein natürliches Vorgehen in der Welt da draußen.

    „Running Wild“ ist ein Film der Extreme. Eine Eigenschaft, die unabwendbar Provokationen hervorruft. Interessant ist bei solchen Filmen aus diesem Grunde immer die Konfrontation mit einem Publikum, das durch durchschnittliche und einseitige Filmware längst nicht mehr im Stande ist, mit solch brachialer Kunst umzugehen. Die bezeichnende Metaphorik wird nicht zuletzt in den Faustkämpfen der Darsteller sichtbar. Diese sind keine Martial-Arts-Kämpfe im eigentlichen Sinne. Vielmehr erinnert die Aufmachung und Choreografie der Kampfszenen an wilde Straßenkämpfe, die aber künstlerisch und artistisch umgesetzt wurden. Der Kampfstil, der keiner ist, wirkt dank dieser Leistung der Choreografen elegant und stilvoll, zugleich aber dreckig und ungleich.

    Erinnernd an den alles überragenden, südkoreanischen Film Oldboy, geht es in „Running Wild“ wieder einmal um die Rache - selbstgerechte Einebnung einer erfahrenen Ungerechtigkeit. Dieses Motiv ist bezeichnend für sämtliche Asien-Filme; zuletzt eindrucksvoll in Sympathy For Mr. Vengeance und Sympathy For Lady Vengeance gezeigt. Oft wird aber verkannt, dass sich hinter dieser Maske aus Rachgelüsten, Brutalität und Extremität etwas ganz anderes verbirgt, als die sadistische Lust an Schmerz und Gewalt. Es geht häufig um menschliches Leiden durch Ausbleiben erwarteter Gerechtigkeit oder das Erfahren von Ungerechtigkeit am eigenen Leib. Das eine - Leid - als ein Gefühl von „Mitleiden“ verstanden, das andere - Gerechtigkeit - als eine vernünftige Tugend und Form menschlichen Erkennens und Handelns.

    Sicherlich kann „Running Wild“ in dieser Beziehung ein Mangel an Ideen und Innovationen unterstellt werden. Die Machart scheint wirklich nicht neu zu sein: Knallharter Cop-Thriller mit rasanten Buddy-Movie-Elementen wird auf ein herzerweichendes Fundament von sozialen Problemen und philosophischen Fragen gestellt. Aber: Dieses Konzept geht gerade deswegen auf, weil es so simpel und klar konstruiert ist. Regisseur Kim Sung-soo versteht es, mit einfachsten Bausteinen ein überdurchschnittlich gutes und aussagekräftiges Erstlingswerk zu schaffen. Erst in der Zusammensetzung der Bausteine gewinnt der Film an Tiefe und Qualität. Die stilistische Umsetzung, die Optik und der Score untermalen diesen Effekt eindrucksvoll.

    In guter Tradition asiatischer Filmkunst setzt „Running Wild“ wieder einmal Maßstäbe in der Kameraführung und im Storyboarding. Dies lässt sich auch gut begründen: In überwiegend dunklem und düsterem Look zeichnet Regisseur Kim Sung-soo das schmutzige Bild eines kalten Seouls. Der Schnitt ist feinfühlig und setzt die intensiven Bilder des Films gut in Szene. Die Erzähltechnik, innerhalb einer Szene Zeitsprünge zu verwenden, ist zwar nicht neu, sorgt aber dennoch für anschauliche Effekte und veredelt die sowieso schon stilistische Brillanz des Films.

    In der Überzeichnung der Charaktere erreicht „Running Wild“ fast comicähnliche Züge. Hier schaut der Gangster auf einem Hochhaus über die gesamte Stadt, über die er bald herrschen wird. Der verzweifelte Cop wühlt im Dreck und kämpft sich einsam und allein durch die Straßen der seelen- und gesichterlosen Stadt. Das, was jedoch eindeutig fehlt, ist der Superheld, der dieser tragischen Geschichte eine positive Wende verleiht. Immer wieder sind es solche Momente des Films, die ihn trotz überspitzten Aussagen und Charakterzeichnungen real erscheinen lassen. Wenn nicht in der konkreten Geschichte oder in den Charakteren, dann in Form seiner Aussage.

    Vor allem durch die Darstellungen der einzelnen Schauspieler - die überspitzt und einseitig bezeichnende, charakteristische Merkmale hervorheben - kann dieses Phänomen beobachtet werden. So verkörpert zum Beispiel Hauptdarsteller Kwong Sang-woo einen absolut eindimensionalen Charakter. Das einzige Motiv, das ihn leitet, ist (Selbst-)Gerechtigkeit - auch dann, wenn er für sein Ziel über Leichen gehen muss. Ji-tae Yoo als sein anfänglicher Gegenspieler, vernünftig und abgeklärt, ist stets ein akkurater Diener des Staates gewesen. Was der Film damit sagen will: Es gibt zwei Prinzipien, von denen Menschen geleitet werden. Auf der einen Seite die Vernunft, auf der anderen das Gefühl oder der Trieb. Das nach außen strikt geordnete und rational bestimmte Leben muss aufgrund dieser Zweiseitigkeit der menschlichen Natur zwangsweise in die Irrationalität des Individuums führen. Die beiden Hauptdarsteller unterscheiden sich in ihren Handlungen und Meinungen am Ende nicht mehr. Das System hat menschliche Wracks aus ihnen gemacht, die beim Ausbleiben der Rationalität - also auch der erwarteten oder angestrebten Gerechtigkeit - an die Grenzen ihres Verstandes kommen und in einem Zustand der Fremdbestimmung und Ohmacht aufwachen. Die Leistung des Zuschauers muss aber gerade darin liegen, die eindimensionalen Charaktere und typisierenden Geschehnisse des Films in einen komplexen Gesamtzusammenhang zu setzen. Am Ende steht die Aussage, die drastisch gesellschaftskritisch ausfällt. Der Beobachter sieht vielleicht zunächst nur den bösen, herzlosen Gangster, den blinden, rachsüchtigen Cop, den erfolgreichen, intelligenten Staatsanwalt. Im Mittelpunkt steht aber etwas ganz anderes: Der Mensch vor der Maschine, die er Gesellschaft nennt - Erinnerungen an Kafka werden wach.

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