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    Sturm
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sturm
    Von Björn Helbig

    Sein Studium im Fach Dokumentarfilm an der Münchner Filmhochschule beendete Hans-Christian Schmid 1992. Seitdem hat er sich mit beachtlichen bis exzellenten Filmen als einer der wichtigsten deutschen Regisseure seiner Generation etabliert. Ein weiterer Höhepunkt in seinem Werk feierte nun im Wettbewerb der Berlinale Premiere. Mit diesem neuen Projekt wagt sich Schmid an ein bedeutendes, aber auch sehr schwieriges Thema: das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Das Polit-Drama „Sturm“, eine deutsch-dänisch-niederländische Co-Produktion, ist die bisher ruhigste und konzentrierteste Arbeit des Regisseurs. Mit der Geschichte um eine mutige Anklägerin im Prozess gegen einen Kriegsverbrecher entfacht Schmid einen lautlosen Orkan, der seine Spuren hinterlässt.

    Vor Gericht in Den Haag führt Hannah Maynard (Kerry Fox) als Anklägerin den Prozess gegen Goran Duric (Drazen Kuhn), eine der Schlüsselfiguren bei der Deportation und Ermordung von bosnisch-muslimischen Zivilisten im Kroatien-Krieg der 1990er Jahre. Doch dann verwickelt sich der Hauptbelastungszeuge in Widersprüche. Als ihm nachgewiesen werden kann, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat, begeht der Zeuge Selbstmord. Anstatt den Fall verloren zu geben, begibt sich Hannah zu seiner Beerdigung nach Sarajevo, wo sie seine Schwester Mira (Anamaria Marinca, Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage) trifft. Hannah bekommt den Eindruck, dass die junge Frau mehr weiß, als sie zuzugeben bereit ist. Nach anfänglichem Zögern entscheidet sich Mira jedoch, ihr Schweigen zu brechen. Aber mit ihrer Bereitschaft zur Aussage ist die Sache noch nicht getan. Nicht nur Personen, denen die Wahrheit unbequem werden könnte, üben Druck auf die beiden Frauen aus. Auch von ihren Vorgesetzten bekommt Hannah nicht die erwartete Unterstützung.

    Viele Filme haben sich schon mit dem Phänomen „Krieg“ auseinandergesetzt, ob mit seiner Entstehung, den bewaffneten Konflikten zwischen Staaten oder den physischen und psychischen Wunden, die alle Beteiligten davon tragen. Schmid greift mit den Fragen nach der politischen, moralischen und juristischen Aufarbeitung von Kriegsereignissen mutig einige bisher noch nicht allzu häufig behandelte Aspekte auf. Inspiriert durch eine Geschichte über das Tribunal in Den Haag, begannen der Regisseur und sein langjähriger Autorenpartner Bernd Lange zu recherchieren, bis sich der Filmplot herauskristallisierte. Der Titel bezieht sich auf die Militäroperation „Sturm“: Die kroatische Armee eroberte innerhalb weniger Tage die Republik Srpska Krajina, die unter serbischer Kontrolle stand und rund ein Drittel des heutigen Kroatiens ausmachte. In diesem Zusammenhang kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen.

    Am Anfang der Karriere des jungen Oberbayern Schmid war noch nicht abzusehen, wie groß sein Interesse an gesellschaftlich brisanten Stoffen sein würde. Mit „Nach fünf im Urwald“ drehte er eine leichte, wenn auch gut beobachtete Jugendkomödie und machte Franka Potente (Lola rennt, Anatomie) bekannt, die damals noch Schauspielschülerin war. Mit den darauf folgenden Filmen 23 und Crazy zeigte Schmid, dass er alles andere als eine Eintagsfliege war, vor allem mit dem verstörenden Psychodrama „23“ mit August Diehl (Die Fälscher) gewann er eine große Fangemeinde. Mit dem grandiosen Lichter, einem an der deutsch-polnischen Grenze angesiedelten episodischen Drama, gelang es dem Regisseur dann, sein Image als Spezialist für Teenager-Geschichten abzuschütteln. Zuletzt erzählte Schmid in Requiem die auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte eines schizophrenen Mädchens in der erzkatholischen Provinz. Mit der Wahl der Hauptdarstellerin Sandra Hüller (Madonnen, Der Architekt) zeigte Schmid ein weiteres Mal sein Gespür für Neuentdeckungen, mit ihrer grenzerkundenden Darbietung gewann sie den Deutschen und den Bayerischen Filmpreis, den Silbernen Bären der Berlinale 2006 und den Preis der Deutschen Filmkritik.

    Schmid erforscht in seinem Werk die Innenwelten seiner Protagonisten, um mithin die Psyche der Gesellschaft zu sezieren. Nachdem er bereits die Familie, die Schule, die bayerische Provinz der 1970er oder die Hacker-Szene der späten 1980er Jahre seiner Analyse unterzogen hat, weitet Schmid den Radius nun aus. In diesem Film ist etwas faul im Staate Dänemark – aber nicht nur dort. Der gesamte Staatenzusammenschluss UNO kann und will nicht immer seinen vorrangigen Aufgaben nachkommen und sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzen. Bürokratie und Politik stehen allzu oft der Gerechtigkeit im Wege. In diese Wunde legt Schmid diesmal den Finger. Trotz der schonungslosen kritischen Töne ist „Sturm“ aber gleichzeitig ein Plädoyer für die Arbeit des UN-Kriegsverbrechertribunals, das eine bedeutende Rolle im Friedensprozess spielt.

    Mit „Sturm“ erreicht Schmid eine neue Stufe in seiner künstlerischen Entwicklung. Von Beginn seiner Karriere an auf einen möglichst großen Realismus seiner Filme bedacht, setzt der Filmemacher auch hier voll und ganz auf die Wahrhaftigkeit der Geschichte. Er vermeidet in seiner Inszenierung die Manipulation des Zuschauers durch übermäßige Dramatisierung, auf künstliche Spannungsmomente verzichtet Schmid vollständig. Freunden des konventionellen Polit-Thrillers wird es im Film deswegen vermutlich auch zu viel Politik und zu wenig Nervenkitzel geben. Äußerst spannend ist „Sturm“ dennoch. Nicht zuletzt dank des erstklassigen Ensembles gelingt dieser Ansatz. Alle Figuren wirken absolut authentisch, besonders Kerry Fox (The Gathering, The Ferryman) zeigt sich in großartiger Form und schafft eine Figur, die viele Zuschauer nach Ende des Films vermissen werden. Eine genaue Recherche, Gespräche mit beteiligten Personen sowie die virtuose Arbeit von Cutter Hansjörg Weißbrich und Kameramann Bogumil Godfrejow, der überwiegend mit Handkamera drehte, geben dem Film den letzten Schliff. Dezente Ambient-Klänge sorgen für angemessene Stimmung und runden das ohnehin schon hervorragende Ergebnis ab. Wer sich auf Schmids Filmkonzept, bei dem ein zügiges Erzähltempo nie auf Kosten der Genauigkeit geht, einlassen mag, wird mit einem klugen Polit-Drama belohnt, das trotz aller Bitterkeit im Kern doch optimistisch bleibt.

    Fazit: Hans-Christian Schmid bestätigt seinen Spitzenplatz unter den jüngeren Filmemachern Deutschlands und fügt seinem eindrucksvollen, künstlerisch spannenden Werk ein weiteres Prunkstück hinzu. Mit „Sturm“ ist ihm ein herausragender Film zur Arbeit des Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag gelungen.

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