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    Looking for Eric
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Looking for Eric
    Von Florian Koch

    Manche Spitzenfußballer werden ironischerweise erst dann zu Legenden, wenn sie sich einen großen Schnitzer leisten. Beste Beispiele dafür sind das Tor durch die „Hand Gottes“ von Diego Armando Maradona (beim 2:1 im WM-Viertelfinale 1986 gegen England), der Kopfstoß von Zinedine Zidane im 2006er WM-Finale oder auf etwas kleinerer, nationaler Ebene Stefan Effenberg mit seiner Stinkefingerattacke bei der WM 1994 in den USA. Diese Betrüger und Rüpel entfachten bei Fans Kontroversen, wurden für ihr Benehmen – unabhängig ihrer sportlichen Qualitäten – gefeiert oder gehasst. Der Grund liegt auf der Hand. Durch die Verfehlungen machten sich diese Sportmillionäre menschlicher. Ihre peinlichen Ausrutscher nahmen ihnen ihren Unfehlbarkeits- und Unnahbarkeitsstatus. In der englischen Premier League genoss das französische Raubein Eric Cantona dank seines legendären Ausrasters gegenüber einem Fan zu aktiven Zeiten Kultstatus. Nach einem kleinem Aufritt in dem Kostümdrama Elizabeth entfaltet der Ex-Fußballprofi aber erst in der Tragikomödie „Looking For Eric“ (der Titel ist eine wunderbar ironische Abwandlung des Al Pacino Shakespearefilms „Looking For Richard“) sein ganzes Talent. Um diese verborgenen Qualitäten aus ihm herauszukitzeln, brauchte es allerdings einen britischen Klasseregisseur vom Format eines Ken Loach. Er besetzte Cantona in der Rolle, die er am besten beherrscht: als sich selbst.

    Eric Bishop (Steve Evets) ist wahrlich ein Häufchen Elend. Ausgemergelt und erschöpft schlägt der Manchester-United-Fan sich als Briefträger durch, und selbst die warmherzigen Versuche seiner Kollegen ihn zum Lachen zu bringen, scheitern kläglich. Was sie nicht ahnen können, Erics Privatleben gleicht einem Torso. Seine Tochter Sam (Lucy-Jo Hudson) hat wenig Kontakt zu ihm, und ihre Mutter Lily (Stephanie Bishop) ließ Eric bereits vor 30 Jahren feige sitzen. In seinem Haus treiben jetzt seine aufmüpfig-pubertierenden Stiefsöhne Ryan (Gerard Kearns) und Jess (Stefan Gumbs) ihr Unwesen. Längst hat Eric mit seiner depressiven, selbstmörderischen Grundeinstellung jede Autorität über sie verloren. Um seiner Untergangsstimmung entgegenzuwirken, kommt Kumpel Meatballs (John Henshaw) auf eine irrwitzige Idee. Er veranstaltet eine „Selbsthilfe“-Sitzung, bei dem sich jeder Anwesende in sein größtes Idol hineinversetzen soll. Während bei Erics Kumpels wenig überraschende Namen wie Gandhi und Nelson Mandela fallen, stellt sich Eric sein einzig wahres Vorbild Eric Cantona vor. Und tatsächlich, als Eric am Abend in seinem Schlafzimmer an einem Gute-Nacht-Joint zieht, liegt der ehemalige Fußballstar doch tatsächlich auf seinem Bett und begrüßt Eric in seinem unnachahmlichen Französisch/Englischen Kauderwelsch. Und das ist noch nicht alles: Denn bald gibt der prominente Kicker Eric ein paar gute Tipps, wie er seine Lily zurückgewinnen kann.

    Es überrascht wenig, dass gerade Top-Athleten im späteren Leben vor der Kamera – zumeist als TV-Experten – eine zweite Karriere starten konnten. Die berühmteste Erfolgsgeschichte ist in Großbritannien sicherlich die von Vinnie Jones Snatch, Bube, Dame, König, Gras. Der ehemalige Brutaloverteidiger (Spitzname: „Die Axt“) macht im Kino da weiter, wo er auf dem Fußballplatz aufhörte: mit grimmigem Blick einen Bösewicht nach dem anderen zu verkörpern. Dennoch galt dieser rüde Rote-Karten-Sammler nicht allein als „Bad Boy“ der englischen Liga. Denn diese Rolle kam eben auch dem Franzosen Eric Cantona zu, der seinem Kollegen Jones jetzt schauspielerisch Konkurrenz macht. Der Stürmerstar von Manchester United erregte am 25. Januar 1995 großes Aufsehen, als er sich doch tatsächlich dazu hinreißen ließ, während des Spiels gegen Crystal Palace einem Fan einen brutalen Kung-Fu-Tritt zu verpassen. Das hatte zur Folge, dass Cantona mehr als ein halbes Jahr gesperrt wurde.

    Ken Loach gilt nicht zu Unrecht als Großmeister des britischen Arbeiterkinos. Seine bitteren, realistischen Geschichten sind ganz nah dran an den Figuren, streifen mal den IRA-Konflikt The Wind That Shakes The Barley, mal die Arbeiterrechte („Riff-Raff) oder die Alkoholprobleme eines Arbeitslosen („Mein Name ist Joe“). Häufig ist der Grundtenor des aufrechten, sozial engagierten Regisseurs ein düsterer und kritischer. Doch gelegentlich streift der Filmemacher durchaus die Elemente der heiteren Komik, so auch in seinem neuesten Werk „Looking For Eric“. Doch auch in dieser publikumswirksamen Produktion bleibt sich Loach seinem Stil treu. Und das kommt der Qualität des Films, der durchaus fantastische, irrationale Züge wie die Cantona-Geistererscheinung besitzt, und mehrere Genres durchwandert, durchaus zu Gute. Denn Cantona war sich bewusst, dass nur ein Drehbuchautor (der langjährige Loach-Mitarbeiter Paul Laverty) und ein Regisseur mit einem Gefühl für die britische Working-Class-Gesellschaft und die Leidenschaft englischer Fußballfans aus diesem Thema keine billige Klamotte machen würden.

    Wie immer setzt Loach in „Looking For Eric“ auf unbekannte Schauspieler, die in ihre Rollen förmlich eintauchen. Mit Steve Evets gelang ihm ein Glücksgriff. All die Traurigkeit und verschüttete Liebe bringt dieser hagere, schwer vom Leben gezeichnete Mann glaubwürdig zum Ausdruck. Auch das Zusammenspiel mit Cantona, der gekonnt selbstironisch mit seinem Rüpelimage und seiner verzweifelten Liebe zum Trompetenspiel kokettiert, funktioniert fantastisch. Überhaupt überzeugen die Schauspieler bis in die Nebenrollen, wirken die Schauplätze genau ausgewählt und die ruhige Inszenierung stimmig bis in die kleinste Nuance. Anspielungen auf den zunehmenden Fußball-Kapitalismus kann und will sich der Sozialkritiker Loach nicht verkneifen, doch wirken diese Schlenker, besonders bei einer Fandiskussion in einer Bar nie aufgesetzt.

    Besonders bemerkenswert an „Looking For Eric“ ist der genial durchgezogene, mutige Genrewechsel. Von präziser Milieustudie, stimmungsvoller Liebesgeschichte bis zu hartem Thriller mixt Loach scheinbar spielend und ohne Brüche die Filmthemen. Insofern vermengen sich in seinem großartigen Werk hochamüsante Momente (die „Fußballweißheiten“ von Cantona), bewegenden Sequenzen (das erste Treffen von Lily mit Eric) mit schweißtreibend-spannenden Szenerien (die Hundeattacken der Gang auf Eric). Da verwundert es nicht, warum es für dieses Werk beim Filmfestival in Cannes 2009 stehende Ovationen gab.

    Fazit: Der britischen Regie-Ikone Ken Loach ist mit „Looking For Eric“ ein wunderbar amüsanter und gleichsam spannender Film gelungen, der trotz seines leichten Tonfalls und seiner skurrilen Geschichte nie billig ins Klamottenhafte abgleitet. Wer mit dem Namen des französischen Kultkickers Eric Cantona nicht gleich etwas anzufangen weiß, sei beruhigt. Die ansteckende Gute-Laune-Milieustudie funktioniert auch ganz ohne Fußballwissen.

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