Der Freiheitsentzug der Natascha Kampusch und das Inzest-Drama im österreichischen Amstetten sind spektakuläre Einzelfälle, die auf ein großes Medienecho stießen und eine öffentliche Debatte über härtere Strafen und mögliche Präventivmaßnahmen in Gang setzten. Eine ernsthafte politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kindesmissbrauch findet deshalb aber leider immer noch nicht statt. Dabei werden allein in Deutschland laut Statistik des Bundeskriminalamtes mehr als 15.000 Kinder unter 14 Jahren sexuell misshandelt. Die Dunkelziffer liegt wohl noch deutlich höher. Welche seelischen Folgeschäden diese Gewalt für die Opfer bedeutet, wird in der Öffentlichkeit häufig totgeschwiegen. Der Fernsehjournalist Jan Schmitt wagt deshalb mit seinem eindringlichen Dokumentarfilmdebüt „Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris“ den Ausbruch aus dieser Schweigespirale. Am Beispiel des traurigen Schicksals seiner Mutter deckt er schonungslos familiäres und gemeinschaftliches Versagen auf und weist noch einmal auf die tabuisierten sexuellen Übergriffe katholischer Priester hin.
Jan Schmitt (in den Spielszenen: Michel Haebler) kann sich nicht erklären, warum seine Mutter Mechthild 1996 plötzlich Selbstmord beging. Elf Jahre später will er diesem Rätsel auf die Spur kommen und endlich Antworten auf die in ihm brennenden Fragen finden: Warum brachte sie sich um? Wieso erkannte niemand die Anzeichen für ihre Todessehnsucht? Seine Nachforschungen führen Schmitt in das Jugenddorf Klinge, wo seine Mutter unter merkwürdigen Umständen mit 16 Jahren in ein Heim gesteckt wurde. Ehemalige Mitbewohnerinnen erinnern sich an das unter Depressionen und Migräneanfällen leidende Mädchen, können Schmitt aber ebenso wenig weiterhelfen wie Mechthilds Schwestern. Erst ihre minutiös-verkünstelten Tagebucheinträge und die späten Geständnisse ihrer engsten Freundinnen führen die schreckliche Gewissheit zu Tage, dass Mechthild in jungen Jahren mit dem Wissen ihrer Mutter von einem Jesuitenpater vergewaltigt wurde. Doch damit war ihr Leidensweg noch nicht vorbei. Nach der Entlassung aus dem Heim heiratete sie früh, brachte drei Kinder zur Welt und wurde doch nicht glücklich. Erst ihr zweiter Mann gab Mechthild Geborgenheit. Als er früh starb, begab sich die psychisch schwer gestörte Frau in Therapie und fand in langen, schmerzhaften Sitzungen heraus, dass auch ihr Vater sie missbraucht hat.
„Gott hat immer ein besonderes Auge auf die Kinder. Daran glaubte meine Mutter als sie klein war... sie sollte sich täuschen. Gott schaute weg. Immer wieder.“ Diese Worte von Jan Schmitt (gesprochen aus dem Off von August Diehl) bleiben lange beim Zuschauer haften. Sind sie doch auch eine Erklärung dafür, warum der Journalist vom grauenhaften Schicksal seiner gepeinigten Mutter erzählen will: Mechthilds Ringen um ein „normales“ Leben und ihre verzweifelte Aufarbeitung der lange Zeit verdrängten Vergangenheit sollen nicht vergessen werden, sondern ein filmisches Denkmal bekommen. Obwohl „Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris“ keine Förderung erhielt, sagten sofort einige deutsche Schauspielstars zu, an dem bewegenden und einzigartig-persönlichen Projekt mitzuwirken. August Diehl (Inglourious Basterds, Lichter) spricht mit seiner klaren Stimme die Gedanken des Ich-Erzählers Schmitt aus, während Suzanne von Borsody (Lola rennt) aus den mal poetischen, mal wie ein Aufschrei anmutenden Tagebucheinträgen von Mechthild rezitiert. Eher unnötig ergänzt Meret Becker (Meine schöne Beschwerung, Rossini) die Dokumentation mit kurzen Gesangseinlagen, die auf Texten der Gruppe Element Of Crime basieren.
Aus dem Thema hätte eine reißerische Anklage gegen Kirchenvertreter werden können, doch der Regisseur lässt sich nie zu billiger Polemik oder Pauschalisierungen hinreißen. Immer bleibt sein Film subtil und stimmig, entwickelt in seiner puzzleartigen Enthüllungsdramaturgie fasst die Sogkraft eines Krimis. Auch die Interviewpassagen sind glänzend ausgewählt, demaskieren sie doch die Problematik des Verdrängens und des „nicht wissen Wollens“ selbst im engsten Kreis der Familie. Besonders eindrucksvoll ist die wiederholte bildliche Einbeziehung von Arnold Böcklins berühmtem Gemälde „Die Toteninsel“, das mit seiner morbiden Atmosphäre Mechthilds Gefühl vom „endlich zur Ruhe kommen“ kongenial illustriert.
Der inhaltlichen Brisanz und Kraft von „Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris“ wird Schmitt auf der filmtechnischen Ebene leider nicht ganz gerecht. Zwar ist es bemerkenswert, dass er wie ein Stationendrama alle Schauplätze des Verbrechens abfährt, aber die unglückliche (falls vorhandene) Ausleuchtung, die gerade in den Gesprächen missglückten Bildausschnitte und die oftmals unmotivierten Zwischensequenzen erinnern eher an einen Amateurfilm als an eine professionelle Dokumentation. Diese ästhetischen Schwächen werden dem Thema - trotz ihres Authentizitätscharakters - nicht immer gerecht. Der inneren Geschlossenheit und Dringlichkeit der Geschichte können diese formalen Makel aber nichts anhaben.
Fazit: „Die Vergangenheit ist nicht vergangen solange wir schweigen“ heißt es in der ergreifenden Selbstmordaufarbeitung „Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris“. Und glücklicherweise hat Jan Schmitt nicht geschwiegen, sondern die Schreckensbiographie seiner Mutter verfilmt, die trotz ihres sehr persönlichen Charakters gerade mit ihrer Missbrauchsthematik eine wichtige Allgemeingültigkeit besitzt.