Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ ist ein Gemälde, eine Gemäldegalerie, besser gesagt, eine bewegte Abfolge von lebendig gewordenen Bildern, farbenprächtig, satt, barock. Schon die Eingangsszene erinnert deutlich an ein solches Ölbild aus vergangenen Zeiten. Aus etwa hundert Meter Entfernung, von einem Baum aus, durch die fallenden Äste hindurch hält die Kamera, hält der Künstler, der Film-Maler, auf eine Duell-Szene. Doch Kubricks „Malerei“ ist weit entfernt von der Idylle. Er nutzt diese Idylle als Form, als manipulatives Instrument für eine Geschichte, die mit dem Epilog endet: „Es war zu Zeiten George III., in der die genannten Personen lebten und kämpften, gut oder böse, schön oder hässlich, reich oder arm. Jetzt sind sie alle gleich.“
Teil 1. „Auf welche Weise Redmond Barry den Namen und Titel Barry Lyndon errang.“
Irland im späten 18. Jahrhundert. Redmond Barry (Ryan O’Neal), der seinen Vater in besagtem Duell verloren hat, verliebt sich in seine Cousine Nora Brady (Gay Hamilton). Als die englischen Truppen sich auf eine befürchtete französische Invasion vorbereiten, lernt Nora Captain John Quin (Leonard Rossiter) kennen. Die Verwandtschaft setzt alles daran, Nora mit Quin zu verkuppeln. Es winken etliche Guineas Mitgift pro Jahr für die irische Familie Brady. Barry – von der romantischen Liebe getrieben – fordert Quin zum Duell. Er trifft Quin und die Anwesenden stellen dessen Tod fest. Sie raten Barry, nach Dublin zu gehen, wo ihn niemand kennt, da er befürchten müsse, wegen des Duells von den englischen Soldaten festgenommen zu werden. Mit 20 Guineas in der Tasche reitet er los. Zwei Wegelagerer nehmen ihm Geld und Pferd und so entscheidet sich Barry angesichts fehlender Alternativen, Soldat bei den Engländern zu werden. Dort trifft er seinen Onkel Captain Grogan (Godfrey Quigley) wieder, der ihm nun erzählt, dass Quin gar nicht tot ist. Man habe Barrys Pistole mit harmloser Munition gefüllt und den Tod nur vorgetäuscht, um die Ehe zwischen Quin und Nora zu ermöglichen in Erwartung des entsprechenden Geldsegens.
Barry muss als Soldat am Siebenjährigen Krieg teilnehmen, in dem England an der Seite Preußens, gegen Russland und Frankreich kämpft. Als Grogan in einem Scharmützel tödlich getroffen wird, erbt Barry von ihm 100 Guineas und entschließt sich, bei nächster Gelegenheit zu desertieren. Die kommt. Er belauscht zwei Offiziere beim Bad im See, stiehlt ein Pferd und die Depesche des einen Offiziers und begibt sich auf den Weg Richtung Holland, um von dort in die Heimat zu gelangen. Er begegnet und schläft mit Lischen (Diana Körner), einer deutschen Frau, deren Mann im Krieg ist, und bleibt bei ihr einige Tage. Dann stößt er unterwegs auf den preußischen Offizier Potzdorf (Hardy Krüger), den Neffen des preußischen Polizeiministers. Der ahnt, dass Barry nicht der Leutnant Fakenham ist, für den er sich ausgibt, und zwingt ihn – als Deserteur entlarvt –, in die preußische Armee einzutreten. Fünf Jahre dauert der Krieg schon, die Preußen rekrutieren zwielichtige Gestalten für ihre Armee und Barry lernt von ihnen Betrug und Verstellung. Während eines Gefechts rettet er Potzdorf das Leben, erhält dafür einen Orden und ein bisschen Geld und genießt das Vertrauen des Offiziers, der ihn nach Beendigung des Krieges in Berlin als Spion für seinen Onkel rekrutiert. Barry soll einen irischen Adligen, den Chevalier de Balibari (Patrick Magee) bespitzeln, der im Verdacht steht, als Spion zu arbeiten. Als er vor Balibari steht, muss Barry weinen. Heimweh überkommt ihn, und beide vereinbaren, dass Barry nur zum Schein den Adligen bespitzeln soll. Der ist ein betrügerischer Spieler. Als er den Prinzen von Tübingen (Wolf Kahler) um etliche Beträge mit Hilfe Barrys beim Kartenspiel erleichtert, meldet der Prinz dies dem Polizeiminister. Der beschließt Balibari auszuweisen. Barry sieht seine große Chance: Als Balibari verkleidet, lässt er sich unter dem Schutz der preußischen Staatsmacht nach Sachsen bringen. Balibari flüchtet auf anderem Weg aus Preußen, und beide beginnen eine Karriere als Spieler an den Höfen Europas. Barry fasst einen Beschluss. Von der romantischen Liebe sich abwendend und aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre schwört er, nach einer reichen, angesehenen Frau zu suchen, deren Vermögen ihm das Leben versüßen soll. Schnell ist die entsprechende Dame gefunden, die Countess of Lyndon, Viscountess of Bullingdon, kurz Lady Lyndon (Marisa Berenson), verheiratet mit dem todkranken Sir Charles, Minister unter George III. Barry hat keine besondere Mühe, die Lady zu becircen und für sich zu gewinnen. Und ein weiterer Glücksfall kommt ihm zugute. Sir Charles, der von der Affäre seiner Frau mit Barry weiß, erliegt einem Herzanfall in Spa in Belgien.
Teil 2: „Eine Auflistung des Unglücks und der Plagen, die Barry Lyndon zuteil wurden.“
1773 heiraten Barry, nun Barry Lyndon, und Lady Lyndon. Er behandelt seine Frau allerdings wie die Teppiche, Bilder und Einrichtungsgegenstände, die ihr herrschaftliches Haus zieren: als Mittel zum Zweck. Lady Lyndons Sohn, Lord Bullingdon (Dominic Savage, als Erwachsener: Leon Vitali), erkennt schon als Kind in Barry den Opportunisten. Er beginnt, seinen Stiefvater zu hassen. Ein Jahr nach der Trauung wird Sohn Brian (David Morley) geboren. Barry erfüllt seine standesgemäßen Pflichten und geht ansonsten einem Leben in Saus und Braus nach, hat eine Liebschaft nach der anderen, sogar mit dem Kindermädchen. Lady Lyndon, die ihn liebt, muss – schon von Natur aus melancholisch veranlagt – jetzt auch noch ihre Eifersucht ertragen.
Barrys Mutter (Marie Kean), die bei den Eheleuten wohnt, rät ihrem Sohn, einen Titel zu erwerben, sonst würde er beim Tod seiner Frau wieder mittellos auf der Straße stehen. Barry kauft teures, aber wertloses Land, Ölgemälde, zahlt Bestechungsgelder, nimmt Kontakt zu den Adligen auf – doch all das nützt nichts. Die feine Gesellschaft zeigt ihm die kalte Schulter. Als Jahre später das Vermögen Lady Lyndons fast aufgebraucht ist, stellt Lord Bullingdon Barry während eines Hauskonzerts vor den versammelten Gästen bloß, worauf ihn Barry verprügelt und der Lord das Haus verlässt. Nun ist Barry bei der adligen Gesellschaft völlig desavouiert. Die Gläubiger rücken in einer Front gegen ihn vor. Als dann noch Brian nach einem Sturz vom Pferd stirbt, ist es um Barry geschehen. Er trinkt, Lady Lyndon begeht einen Selbstmordversuch und Lord Bullingdon fordert Barry zum Duell, bei dem Barry durch einen Schuss so schwer verletzt wird, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Gegen eine Jahresrente von 500 Guineas – gezahlt von Lady Lyndon, der er nie wieder begegnen wird, und ihrem Sohn Lord Bullingdon – und mit dem Versprechen, England nie wieder zu betreten, kehrt Barry mit seiner Mutter nach Irland zurück – gedemütigt und geschlagen.
Kubrick lässt die Geschichte Barry Lyndons alias Redmond Barry von einem Erzähler schildern. Und da heißt es gleich zu Anfang: „Wie anders hätte Barrys Schicksal doch sein können, hätte er sich nicht in Nora verliebt und hätte er Captain Quin nicht das Glas ins Gesicht geworfen“, und später: „und hätte er nicht Lord Bullingdon angegriffen und hätte er nicht auf den Boden geschossen“ (beim Duell mit Bullingdon). Barrys Charakter scheint sein Schicksal zu bestimmen. Aber nicht nur sein Charakter, auch seine Herkunft und die Umstände der Zeit lassen den jungen Mann ins Leben stürzen, so dass man im ersten Teil des Films den Eindruck hat: Er wird gestürzt, zum Spielball der Interessen anderer, des englischen und preußischen Militärs usw. – ganz im Gegensatz zum zweiten Teil, indem Barry anscheinend sein Schicksal, wenn auch an entscheidenden Punkten kontraproduktiv, in die eigenen Hände nimmt. Er scheint es jetzt zu sein, der sich der anderen bedient, um einen Titel, einen Namen, Wohlstand zu erreichen. Man kann in „Barry Lyndon“, diesem malerisch anmutenden und doch zugleich erschreckenden Epos des barock anmutenden 18. Jahrhunderts, so etwas sehen wie die Miniatur der Geschichte, die Kubrick in „2001: Odyssee im Weltraum“ erzählt. Der Bogen, der in „2001: ...“ vom Ursprung des Menschen, der Kultur über Millionen Jahre hin gespannt wird, verkürzt sich in „Barry Lyndon“ auf die Länge eines Menschenlebens. Wo steht Barry am Ende seines Lebens, als noch berichtet wird, dass er an den Höfen Europas wieder als Spieler aufgetaucht sein soll, allerdings nicht mit dem Erfolg, den er dabei früher mit Balibari hatte, wo steht er, wenn nicht da, wo er als junger Mann in seiner irischen Heimat schon zu Beginn seines Erwachsenenlebens gestanden hatte? Ist er klüger? Weise gar? Oder doch nur gestrauchelt, gedemütigt und geschlagen wie der tragische Held einer griechischen Sage? Allerdings reicher um die Erfahrung, als Individuum gescheitert zu sein?
Es gibt nur zwei Momente im Film, in denen ich wirkliche Nähe zu Redmond Barry empfinden konnte. Das eine ist die Liebe zu seinem Sohn Brian, der auf dem Totenbett seinen Eltern das Versprechen abnimmt, sich nie wieder zu streiten. Barry bricht in Tränen aus, Lady Lyndon ist verzweifelt. Hier spürt man in drei, vier Minuten das einzige Mal die tragische und doch zugleich von tiefer Zuneigung geprägte Nähe dreier Menschen, abseits von Stand, Stellung, Vermögen, Interessen. Dass Barry danach eine Zeitlang dem Alkohol verfällt und seine Frau versucht, sich zu vergiften, zeugt von der Machtlosigkeit zweier Menschen und nicht zweier Figuren im Schachspiel ihrer Biografien. Die andere Szene: Als Lord Bullingdon sich mit Barry innerhalb eines alten Gemäuers duellieren will, geht dem rachsüchtigen und auf Standesdünkel bedachten Lord beim Spannen der Pistole aus Versehen der Schuss los, der eigentlich Barry gelten sollte. Der Lord übergibt sich vor Angst, zittert, kann sich gerade noch beherrschen, nicht zu wimmern oder sich in die Hose zu machen. Barry demgegenüber steht von Anfang an furchtlos, fast gelassen, dem Schicksal ergeben zehn Schritte von ihm entfernt. Er ist an der Reihe zu schießen. Aber er schießt absichtlich in den Boden. Dann schießt ihm der Lord, sogar unfähig, mit der Waffe richtig zu zielen, Barry ins Bein, das später amputiert werden muss. Eine zentrale Szene: Die Sympathien sind hier zum zweiten Mal eindeutig auf Barrys Seite. Er, der seine Frau nur geheiratet hat, um zu Ansehen in der gesellschaftlichen Hierarchie zu kommen, der sich derselben Mittel bedient hat wie die, zu denen er nie stoßen wird, steht einem Feigling gegenüber. Die Masken fallen: Nicht Bullingdon ist hier der Gentleman, für den er und seinesgleichen sich ausgeben, sondern Barry.
Die Szene steht aber noch für etwas anderes, für die Freiheit und die Individualität. Barrys Entscheidung in dieser Situation ist zum ersten und letzten Mal: frei. Alle seine bisherigen Entscheidungen waren erzwungen – aus der Situation heraus, von anderen auferlegt, durch seinen Charakter bestimmt. Jetzt, in diesem einen Moment, in dem er sich Bullingdon ein für allemal entledigen könnte, um damit endgültig seine Freiheit aufzugeben, begibt er sich selbst in eine Art „Camus’sche Situation“. Er wird Sisyphos:
„Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seinen Leidenschaften und dank seiner Qual. [...] So sehen wir nur, wie ein angespannte Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinauf zu wälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloss legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganze menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach diese langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe hat) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muss. Er geht in die Ebene hinunter. Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig ist wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.“ (1)
Kubricks Individualismus ist genau dieser der Freiheit, der Überwindung der Tragik, des Todes und des Schicksals – gerichtet gegen den amerikanischen Individualismus, der letztlich bloß ein ausgeprägter Egozentrismus ist, wie gegen die fordernde Unterordnung kollektivistischer Ideologien – zwei Seiten ein und derselben Medaille der Zivilisation.
Barry ist frei und beschließt mit dieser Freiheit zugleich sein eigenes Schicksal. Kein Titel, kein Reichtum, keine Zukunft im Sinne der sozialen Vorgaben, die seine Zeit prägen. Hinter der voluminösen, prachtvollen, barocken Fassade der manipulierenden, bewusst (ver)blendenden Bilder in „Barry Lyndon“ entpuppt sich für einen Moment, einen kurzen, aber erhellenden Augenblick ein freier Mensch, der „wirkliche“, „wirkende“ Individualist, der weder damals noch heute eine reelle Perspektive zu haben scheint.
„Barry Lyndon“ ist kein moralischer oder moralisierender Film. Kubrick spart nicht mit bissiger Ironie, mit sozialer Kritik, ja mit Spott; doch es geht hier nicht so sehr um ethische Urteile, sondern um das Aufdecken von zivilisationsbedingten Verstrickungen. Wenn es am Schluss heißt: „Es war zu Zeiten George III., in der die genannten Personen lebten und kämpften, gut oder böse, schön oder hässlich, reich oder arm. Jetzt sind sie alle gleich“, bedeutet dies, dass sich individuelle Freiheit wie soziale Gleichheit erst im Tod realisieren. Ein vernichtendes Urteil? Oder eher eine tragische Realität?
(1) Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rororo 22765) 2000, S. 155 f.
(Zuerst erschienen bei CIAO)