Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau (auf Russisch „Rusalka“, und auch eine populäre Oper von Dvorák), die aus Liebe zu einem Prinzen das Meer verlässt und stumm wird, ist eines der schönsten und bekanntesten von Hans Christian Andersen und wie viele seiner Geschichten geht es traurig aus. Die russische Regisseurin Ana Melikian hat in Anlehnung daran ein charmantes modernes Großstadtmärchen gedreht. In Sundance und in Berlin (der Film lief in der Panoramasektion der Berlinale) gab es für „Meermädchen“ Regiepreise.
Ana Melikians kleine Meerjungfrau heißt Alisa (Maria Shalaeva) und lebt mit ihrer Mutter (Maria Sokova) in einem abseitigen Ort an der Schwarzmeerküste. Sie wurde zwar im Meer gezeugt, aber rein äußerlich ist sie ein ganz normales Mädchen, Beine muss sie sich nicht erst wachsen lassen, und sie verstummt nicht aus Liebe, sondern aus Protest gegen ihre Mutter. Die Mutter hat eine merkwürdige Affinität zur See oder wenigstens zu Seemännern und sie ist es auch, die Alisa ihre Meerjungfrau nennt. Alisa entwickelt die Fähigkeit, mit der Kraft ihrer Gedanken leblose Gegenstände und sogar das Wetter beeinflussen zu können. Nur über das Verhalten von Menschen hat sie leider keine Kontrolle. Mit 18 muss sie mit ihrer Mutter nach Moskau ziehen, wo sie Sascha (Evgeny Tsyganov) begegnet, als er sich in selbstmörderischer Absicht von einer Brücke stürzt. Sie springt hinterher und zieht ihn aus dem Wasser. Sascha ist ein reicher, aber unglücklicher junger Mann, der anderen reichen, aber unglücklichen Moskauern Grundstücke auf dem Mond verkauft. Ansonsten gibt er regelmäßig Partys, von denen er sich dann im Laufe der Nacht davonstiehlt, um sich umzubringen, was ihm offensichtlich nicht gelingen will. Alisa verliebt sich in Sascha und setzt alle ihre übersinnlichen und sinnlichen Fähigkeiten ein, ihn vor sich selbst zu schützen und zu bewirken, dass er ihre Liebe erwidert.
Der Film „Meermädchen“ hat nur grobe Gemeinsamkeiten mit dem Märchen von der kleinen Meerjungfrau. Wenn man tatsächlich Vergleiche anstellen wollte, würde auffallen, wie in sich geschlossen und überaus stimmig Andersen seine Handlung konstruiert hat und wie wenig sich das von Melikians Drehbuch sagen lässt. Auch ist Andersens Kindermärchen dort, wo es Gemeinsamkeiten gibt, nämlich besonders in der Darstellung selbstzerstörerischer Sehnsucht, noch um einiges eindrucksvoller als dieser Film. Doch wenn man von solchen nicht ganz fairen Vergleichen absieht, muss man anerkennen, dass „Meermädchen“ seine ganz eigenen Stärken entwickelt.
Zunächst einmal strotzt „Meermädchen“ nur so vor verspielten kleinen Einfällen, die sämtlich visuell hervorragend umgesetzt sind. Was ihre Originalität angeht, sind sie von unterschiedlicher Qualität. Großartig ist zum Beispiel gleich die (scheinbar) animierte Eingangssequenz, weniger gut die etwas abgedroschene Weise, in der ein Fisch in Aquarien von wechselnder Größe in Moskau dann wohl irgendwie noch den Bezug zum Wasser aufrecht erhalten soll - was dann mit dem großen Aquarium geschieht, ist so vorhersagbar, wie es zum Beispiel das Schicksal von Fernsehern in der Nähe von Fenstern mehrstöckiger Häuser in mittelmäßigen deutschen Beziehungsdramen ist. In jedem Fall scheut sich dieser Film nicht davor, sein Publikum zu unterhalten und dabei die Mittel, die das Medium bietet, voll und auf spielerische Weise auszuschöpfen. Die surrealen Einfälle werden immer wieder – und meistens gewitzt – auf den Boden der Realität zurückgeholt, ganz ohne dass dabei das Surreale an Kraft und eigenem Wert verlieren würde.
Als roter Faden durch den Moskauer Teil der Geschichte ziehen sich Spielereien sowohl mit Werbeplakaten und ähnlichen Werbemitteln im Film als auch mit einer deutlichen Werbeästhetik des Films selbst. Alisa läuft als wandelnde Werbefläche durch die Stadt. Eigentlich ein Einfall, der das letzte Mal in Wolfgang Beckers „Das Leben ist eine Baustelle“ von 1997 originell war, aber in diesem Fall macht der Film doch ziemlich viel aus dem nicht neuen Ausgangspunkt: Alisa wohnt auch hinter einer dieser Plakatwände, mit der nicht nur in Moskau ganze Hochhausfassaden zugehängt (und für die Bewohner der Wohnungen dahinter verdunkelt) werden. Und ihr Fenster befindet sich genau hinter dem Auge des abgebildeten Models. Als sie es öffnet und hinausschaut, sieht man es von weitem aufblitzen. Der Film bedient sich genau der Werbeästhetik, die er auch kritisch darstellt, auf seine eigene spielerische Weise. Die Versprechungen der Werbung sind als Slogans auch ständig präsent in Alisas Umgebung und in ihrem Kopf. Sie werden dabei – und das ist das Ungewöhnliche – nicht platt als falsche Versprechen entlarvt. Die Werbewelt ist in ihrem unverbindlichen Appellieren an einfache Gefühle eine Gegenwelt, die sich mit der, in der sich Alisa häufig bewegt, in Teilen durchaus deckt. Sie wird hier weder denunziert noch verharmlost.
Die Figuren, die sich in „Meermädchen“ begegnen und manchmal sogar nahe kommen, sind alle auf ihre Weise wie Andersens Meerjungfrau fremd in der Welt. Und Alisa scheint immer getrieben von der Sehnsucht nach dem Leben in dieser Welt und dem Gefühl dort gar nicht hinzugehören. Von einem eher rationalen Standpunkt aus gesehen, sollte die Geschichte hier deutlich präziser sein, aber auf der emotionalen Ebene funktioniert der Film hervorragend. Denn so, wie es ihm gelingt, zwischen surrealen und realistischen Momenten die Waage zu halten, balanciert er auch mühelos zwischen den Polen Todessehnsucht und Lebenslust.
Am mühelosesten balanciert seine Hauptdarstellerin. In einem durchweg soliden Cast ist sie der strahlende Mittelpunkt. Maria Shalaevas Stimme, mit der sie aus dem Off Alisas Geschichte erzählt, ihr intensiver Blick und ihre ungewöhnliche Körpersprache tragen diesen Film mit bezaubernder Leichtigkeit und mit einer Energie, die meistens dicht unter der Oberfläche bleibt, aber dabei umso präsenter wirkt. Beeindruckend auch, wie nahtlos Shalaeva den kindlichen Trotz der fünfjährigen Alisa (auch sehenswert: Anastasiya Dontsova) in ihre ganz andere Darstellung der jungen Frau übergehen lässt. Tsyganov als Sascha hat gleich mit seinem ersten Erscheinen und dann noch mal als Mondlandverkäufer zwei supercoole Auftritte, gibt ansonsten einen russischen Gael García Bernal und hat doch neben Maria Shalaeva keine Chance zu glänzen. Ihr Charme ist etwas ganz Eigenes, seiner ist nur geborgt. Zur Geschichte, die hier erzählt wird, passt das dann auch wieder.
„Meermädchen“ ist ein schönes, nie sentimentales oder kitschiges Großstadtmärchen im heutigen Russland mit einer bezaubernden Hauptdarstellerin. Oft mit Der fabelhaften Welt der Amelie verglichen, fehlt es Melikians Werk im Vergleich zu diesem Klassiker dann doch etwas an erzählerischer Stringenz und filmästhetischer Unverwechselbarkeit. Trotzdem ein sehenswerter Film – komisch, tragisch, verspielt, originell, unterhaltsam, nur stellenweise ein bisschen zuviel von allem und nicht immer ganz präzise.