Man kann sich noch gut daran erinnern: Damals, so in der 8. oder 9. Klasse war Morton Rhues „Die Welle“ einer der Schullektürenklassiker schlechthin und hat für viel Begeisterung und Diskussionsstoff gesorgt - die Geschichte eines amerikanischen Lehrers, der mit seiner Klasse ein Experiment durchführte, bei dem der Autoritätsgehorsam durch Einschränkungen, klare Machtstrukturen und strikte Vorgaben aktiv an den Schülern angewandt wurde und zu einem verblüffenden wie erschreckendem Ergebnis führte. Faschistoide Züge als Eigenversuch quasi. Und darüber hinaus eine Geschichte, die keine fiktive ist, da sie sich tatsächlich so oder ähnlich in den 60er Jahren an einer Highschool im kalifornischen Palo Alto zugetragen hat. Mit dem Regisseur Dennis Gansel wird „Die Welle“ nun nach einer amerikanischen Verfilmung aus dem Jahre 1981 ein zweites Mal für die Leinwand adaptiert. Dabei ist das Geschehen sinngemäß ins heutige Deutschland und an ein normales Berliner Gymnasium verlegt. Herausgekommen ist ein straff und modern inszenierter Film, der zu großen Teilen wirklich gut funktioniert, sofern man bereit ist, einige dramaturgische Vereinfachungen zu akzeptieren, die sich jedoch für die volle Wirkung auf filmischer Ebene als durchaus sinnvoll erweisen.
Der eigenwillige Gymnasiallehrer Rainer Wenger (Jürgen Vogel) versucht während einer Projektwoche zum Thema „Staatsformen“ seinen Schülern den Begriff der Autokratie näher zu bringen. Wo man sich zunächst noch mit Begriffen wie „Disziplin“ und „Gemeinschaft“ auseinandersetzt, stößt Wenger während der Diskussion schnell auf die einhellige Meinung, dass es eine Form der Diktatur wie die während des Nationalsozialismus heute nicht mehr geben könnte, schließlich lebe man ja in einer Demokratie. „Nazideutschland? – Das ist nicht mehr!“ Diese Einstellung bringt ihn auf die Idee, mit seiner Klasse ein Experiment zu wagen und ernennt sich selbst zu ihrer Leitfigur, um fortan mit Slogans wie „Macht durch Disziplin“ neue Regeln und Vorgaben während des Unterrichts aufzustellen. Was zunächst noch harmlos beginnt und nach anfänglicher Skepsis schnell bei den meisten Schülern wahre Begeisterungsstürme ob der neu gewonnenen Bewegung mit dem Namen „Die Welle“ auslöst, entwickelt diese schnell eine gefährliche Eigendynamik, die Andersdenkende ausschließt und im Laufe der Woche den Weg für gewalttätige Aktionen auch außerhalb der Schule ebnet. Der von Wenger pädagogisch angelegte Versuch gerät zunehmend außer Kontrolle, und er erkennt trotz Warnung seiner Frau Anke (Christiane Paul) zu spät, dass er etwas ins Rollen gebracht hat, was auch nur er wieder stoppen kann. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.
Der Vorteil, sich „Die Welle“ als ein größeres Filmprojekt vorzunehmen, ist bei näherer Betrachtung nicht von der Hand zu weisen und von Dennis Gansel und Produzent Christian Becker rückblickend schlau gewählt. Immerhin kennt nun wirklich fast jeder das Buch oder auch die erstmalige Verfilmung aus dem Schulunterricht, die dort beim Thema „Nationalsozialismus“ als wirkungsvolle Allzweckwaffe von den Lehrern eingesetzt wurde. Die Geschichte ist gerade für junge Leute gut nachvollziehbar, spannend und außerdem zu jeder Zeit an das aktuelle Tagesgeschehen angelehnt (Jugendkriminalität an Schulen, rechtsradikale Übergriffe etc.). Eine sichere Bank mag man meinen, und die über zwei Jahre währenden Arbeiten des Teams zur Realisierung des Projekts ganz klar wert.
Dennoch war an ihrer filmischen Umsetzung Skepsis angebracht, ist die Komplexität in der Darstellung einer sich langsam entwickelnden Bewegung einzelner Schüler hin zu ihrem konformen Kontrollverlust als „Masse mit Profil“ ein schwieriges Unterfangen, und hätte gerade in der Charakterzeichnung schnell oberflächlich und peinlich werden können. Aber dank der wirklich durchweg gut agierenden Darsteller (aus der jungen deutschen Nachwuchsriege) kommt dieses Gefühl nur selten auf.
Natürlich sind die einzelnen Probanten allesamt Stereotypen: Da haben wir den eher einfachen Sportler Marco (Max Riemelt), der aus einem zerrütteten Familienhaus kommt, und bei seiner Freundin Karo (Jennifer Ulrich) Geborgenheit und Nähe sucht. Die wiederum hat ganz eigene Ziele, ist selbstbewusst, zielstrebig und überall beliebt. Ihre beste Freundin Lisa (Cristina Do Rego) wäre gern wie sie, steht aber immer nur im Windschatten der übermächtigen Freundin. Des weiteren hat die Klasse natürlich auch sonst alles, was eine Klasse an Querköpfen braucht: Die coole „Checker-Gang“, die keinen Bock auf nichts hat und sich stattdessen Drogen und Videospiele reinzieht, die emanzipierte dreadlockstragende Ökofrau, die von Anfang an der Welle skeptisch gegenüber steht und somit (neben Karo) letztlich auch nicht Teil der Bewegung wird. Dann ist da noch Ferdi (Ferdinand Schmidt-Modrow) der Klassenclown und Tim (hervorstechend: Frederick Lau), der Außenseiter, der seinerseits extrem schnell auf das Experiment anspringt und sich zu einem gefährlich fanatischen Anhänger entwickelt.
Die individuell stark gezeichneten Charaktere im Film, die normalerweise in ihrer einseitigen Darstellung lautes Gähnen hervorrufen würde, sind interessanterweise in dieser klaren Zuschreibung im Kontext des Experiments sehr wichtig. So lässt sich die Entwicklung und folgende Gleichschaltung der einzelnen Personen besser nachvollziehen und wirkt wesentlich eindrucksvoller nach. Das mag ein einfaches filmisches Mittel sein, aber Gansel schafft es darüber hinaus, in der Gruppe die einzelnen Charakterzüge weiterhin durchschimmern zu lassen und neben den Aktionen der Welle ihre persönlichen Geschichten (und somit Motivationen innerhalb der Bewegung) weiter zu erzählen. Hier stehen vor allem die Beziehung von Max und Karo, sowie Tim im Mittelpunkt des Geschehens, bilden sie doch die beiden stärksten Gegenpole zueinander was die Bereitschaft angeht, innerhalb der Welle mitzuwirken.
Dabei fragt man sich jedoch, warum ausgerechnet die Figur des Lehrers nicht genauso mit Aufmerksamkeit bedacht wurde, und im Laufe des Films immer mehr in den Hintergrund tritt. Dabei ist er als Initiator des Experiments ein gleichwertiger Charakter, der sein eigentliches Ziel zusehends aus den Augen verliert. Er gibt sich ebenso der aufkommenden Begeisterung hin wie seine Schützlinge, zusätzlich beflügelt durch die ungeteilte Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird. In einer Streitszene mit seiner Frau sagt diese: „Du hast dich innerhalb von ein paar Tagen zu so einem Arschloch entwickelt.“ Diese Entwicklung wird aber kaum deutlich, genauso wie seine aufkeimenden Zweifel und Bedenken, die dann viel zu spät kommen und für den Zuschauer aufgesetzt wirken. Das ist wirklich schade, und schmälert ein wenig das ansonsten eindrucksvolle Ende des Films.
Dennoch kann man „Die Welle“ als durchaus gelungen bezeichnen, auch in Hinblick auf die Zielgruppe und ihrer aktuellen Referenzen in Bild und Ton (der Soundtrack wird sicher einige Abnehmer finden). Die Story ist stimmig, und vor allem in ihrer Konsequenz, die bis zum Schluss durchgehalten wird - ein erschütternder Beweis dafür, wo gleichgeschaltete Gruppierungen in ihrem Fanatismus hingeführt werden können, ganz gleich, ob es sich dabei um ganze Länder oder eben „nur“ um Schulklassen handelt. Sehenswert.