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    Boy A
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Boy A
    Von Carsten Baumgardt

    Gewalt von Jugendlichen ist mittlerweile in ganz Europa ein omnipräsentes Thema. Selbst Amok laufende junge Menschen finden sich nicht mehr ausschließlich in den USA – auch Deutschland, Frankreich und die Schweiz waren in diesem Jahrtausend bereits Opfer solch grausiger Tragödien. Eine Nummer kleiner, aber dennoch thematisch verwandt, kehrt Regisseur John Crowley in „Boy A“ die Perspektive nun um. Sein preisgekröntes, intensiv gespieltes Drama schildert die Folgen eines Verbrechens aus der Sicht eines zum Mörder verturteilten Jungen, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis versucht, wieder in die Gesellschaft, die er nie als Erwachsener wahrgenommen hat, zurückzukehren.

    Im Alter von 24 wird Jack (Andrew Garfield) nach 14 Jahren Haft aus einem englischen Gefängnis entlassen. Sein väterlicher Bewährungshelfer Terry (Peter Mullan) versucht, den jungen Mann auf das Leben in der wiedererlangten Freiheit so gut es geht vorzubereiten. Der naive Jack kommt in eine Welt, die er aufgrund der langen Inhaftierung kaum noch kennt. Unter neuer Identität verschafft ihm Terry einen Job als Lagerarbeiter. Jack findet in seinem Kollegen Chris (Shaun Evans) gleich einen neuen Freund, mit dem er abhängt und den Alltag völlig normal erlebt. Von Jacks Vergangenheit, die vor Jahren große Aufregung in den Medien hervorrief, ahnt keiner etwas. Terry hämmert seinem Schützling immer wieder ein, nichts Preis zu geben, weil er fürchtet, dass eine mediale Hexenjagd über ihn hereinbrechen würde. Diese Vorgabe wird auf eine harte Probe gestellt, als sich Jack in seine Arbeitskollegin Michelle (Katie Lyons) verliebt und mit ihr eine Beziehung beginnt…

    Ein Verbrechen hat immer zwei Seiten: Täter und Opfer. Und es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, das Thema aus der Sichtweise des Verbrechers anzugehen. Aber John Crowleys („Intermission“) Ansatz bei seiner Verfilmung des Romans „Boy A“ von Jonathan Trigell ist dennoch anders. Die Bluttat, deren Existenz sich erst langsam in das Bewusstsein des Zuschauers vorarbeitet, liegt lange zurück. „Boy A“ dreht sich weniger um die Tat, als vielmehr um die Eingliederung eines Mörders in die Gesellschaft. Sehr spärlich sät Crowley seine Informationen und gibt immer wieder nur kleine Hinweise darauf, was damals passiert sein muss – das Ausmaß der Untat lässt sich nur erahnen. In einem parallelen Handlungsstrang entfaltet der Regisseur Jacks Kindheit in Rückblenden, denen aber weit weniger Platz eingeräumt wird als der Gegenwartsgeschichte. Diese Informationspolitik in Häppchenform hält den Betrachter an, immer wieder auszuloten, um was es überhaupt geht. Dass mit Jack irgendetwas nicht stimmt, ist von der ersten Szene an klar, aber was genau, kristallisiert sich erst im Laufe des Films heraus.

    Das Spiel mit den Rollen „Opfer“ und „Täter“ treibt Crowley auf die Spitze, indem er sie einfach vertauscht. Er inszeniert den Jetztzeit-Jack ambivalent als Opfer und sein Umfeld als Täter, die danach trachten, ihm sein neu gewonnenes Leben als Otto-Normalbürger wieder zu entreißen. So erweckt dieser weltfremde, schüchterne junge Mann tatsächlich Mitleid, wenn die Meute auf ihn einstürmt und ihn ob seiner Tat wie einen Aussätzigen brandmarkt. Crowley stellt offen die Frage, ob ein Zehnjähriger, der offenbar ein fürchterliches Verbrechen begangen hat, im Erwachsenenalter eine Chance auf Rehabilitation verdient hat oder auf ewig verdammt gehört. Seine Antwort ist der Inszenierung unzweifelhaft zu entnehmen, wie die Gesellschaft darauf reagiert auch. Diese klare Stellungnahme geht notgedrungen auf Kosten der Subtilität.

    Auf der anderen Seite glänzt „Boy A“ mit exakt den Werten, für die der Film 2008 mit gleich vier BAFTA-Awards ausgezeichnet wurde: Hauptdarsteller, Regie, Schnitt und Kamera. Jungschauspieler Andrew Garfield (Von Löwen und Lämmern, Die Schwester der Königin) geht mit seiner Darstellung des scheuen Sonderlings Jack bis an die Grenzen. Es ist dem in den USA geborenen Engländer zu verdanken, dass Jack sich in einem permanenten Schwebezustand befindet und sich der Charakter vom Publikum nur schwer einschätzen lässt. Über all seinen Handlungen, mag er auch noch so naiv und zerbrechlich erscheinen, schwelt im Hintergrund immer der Verdacht, dass sein kindliches Wesen im Körper eines Mannes dennoch in einer Gewalttat eruptieren könnte. Die eindringlichste Leistung liefert jedoch der schottische Charakterschädel Peter Mullan (Children Of Men, Trainspotting, Young Adam). Nachdem er bei seinem eigenen Sohn gescheitert ist, strebt er nun, indem er Jack hilft, nach Wiedergutmachung – und damit nach Erlösung für seinen Schützling, aber eben vor allem auch für sich selbst. Katie Lyons berührt als Jacks Freundin Michelle gerade in den Momenten, die durch ihre Alltäglichkeit besonders werden. Sie bemüht sich, den schüchternen Jack zu ergründen und ist sich dabei nicht bewusst, dass sie nach einem Abgrund fahndet.

    Das immense Spannungsfeld, das „Boy A“ zunächst aufbaut, verliert in der zweiten Hälfte an Intensität. Einige kleine Längen schleichen sich ein, der Beziehung zwischen Jack und Michelle wird ein Tick zu viel Platz eingeräumt, was vom hochinteressanten Grundkonflikt des Films ablenkt. Dazu spielt Crowley in dieser Phase zu schlafwandlerisch auf der Genre-Klaviatur, so dass die ständige, spannungsfördernde Ungewissheit des Beginns verfliegt. Auf der handwerklichen Ebene überzeugt vor allem die Kameraarbeit von Rob Hardy und der kluge Schnitt von Lucia Zucchetti. Obwohl das Drama im britischen Arbeitermilieu verortet ist, durchbrechen die clever montierten Bilder an exponierten Stellen zielgenau die graue Tristesse und übernehmen dabei auch eine dramaturgische Funktion.

    Fazit: „Boy A“ ist ein zumeist spannendes, stark gespieltes Drama, das sich einem hochaktuellen gesellschaftlichen Thema aus ungewöhnlicher Perspektive nähert und dabei gleich mehrere stimmige Charakterporträts entwirft, die kleine Durchhänger verzeihen lassen.

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