Die jährliche Oscar-Verleihung steht für triumphalen Glamour, weniger dafür, Indie-Juwelen ans Tageslicht zu befördern. Dass es auch anders geht, zeigte 2007 Little Miss Sunshine, der gleich vier Nominierungen – und noch erstaunlicher – zwei Trophäen abstauben konnte. Auch die ansonsten überraschungsarme 2009er-Auflage der Gala konnte wieder mit unerwarteten Gästen aus dem Lager der unabhängig produzierten Filme aufwarten. Zwar hatten The Visitor (Bester Hauptdarsteller) und „Frozen River“ (Beste Hauptdarstellerin, Bestes Originaldrehbuch) von Beginn an kaum Chancen, ihre Nominierungen in Gold zu verwandeln, vor allem Courtney Hunts gerade einmal 500.000 Dollar teurer Debüt-Film dürfte aber alleine durch den Publicity-Effekt ordentlich profitieren. Verdient ist die zusätzliche Aufmerksamkeit, denn mit „Frozen River“ legt die Autorin und Regisseurin eine starke Sozialstudie in Form eines ruhigen Dramas vor. Neben der aufopferungsvoll spielenden Melissa Leo überzeugt insbesondere der wertungsfreie und geduldige Blick, mit dem Hunt den Überlebenskampf einer alleinerziehenden Mutter am Rande der Wohlstandsgesellschaft und an der Grenze zur Legalität nachvollzieht.
Pünktlich zum Weihnachtsfest muss Ray Eddy (Melissa Leo, Kurzer Prozess – Righteous Kill, Three Burials - Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada) einsehen, dass ihr spielsüchtiger Mann nicht von seiner aktuellen Eskapade wiederkehren wird. Ebenso verschwunden sind sämtliche Ersparnisse und damit die Chance, der Tristesse des Trailerparks an der amerikanisch-kanadischen Grenze zu entkommen. Den Familienwagen findet die zweifache Mutter dennoch wieder, gerade als die Mohawk Lila (Misty Upham) das Vehikel stehlen will. Das erste Treffen der beiden Frauen endet brüsk. Doch dann kehrt die verzweifelte Ray zurück, um auf einen waghalsigen Deal einzusteigen: Gemeinsam mit Lila schmuggelt sie im Kofferraum illegale Einwanderer über einen zugefrorenen Grenzfluss. Den Lohn dafür hat sie bitter nötig, will sie weiterhin für ihre Kinder sorgen können. Und so lässt sich Ray auf weitere Passagen und damit ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei ein...
Das Handlungsgerüst ist simpel: Eine White-Trash-Mum wird kriminell, um zu überleben. Leicht hätte daraus ein Rührstück über den existenziellen Kampf der amerikanischen Unterschicht werden können. Doch Hunt gelingt es, den impliziten Kitsch zu neutralisieren, indem sie ihre Geschichte mit kühlem Realismus inszeniert und moralisierende Exkurse vermeidet. Einfühlsam verortet sie Rays kriminelle Energie in ihrer verzweifelten Wirtschaftslage, ohne aus den Augen zu verlieren, welchen Schaden ihre Protagonistin damit anrichtet. Besonders ambivalent wird es, wenn die beiden Frauen nach geglückter Passage auf das symbolisch dünne Eis des Flusses zurückkehren müssen, um eine unterwegs zurückgelassene Tasche zu bergen. Was sie dann aber darin finden, führt Rays vorige Bombenspekulation auf grausame Weise ad absurdum.
Hunt verdeutlicht schonungslos, dass der kriminelle Überlebenskampf, so unvermeidlich er sein mag, nichts Heroisches an sich hat. Und nebenher zeigt sie, wie tief die Terrorismus-Angst nach dem 11. September in Amerika unabhängig vom Milieu sitzt. Im weiteren Verlauf werden verschiedene weitere Problemkomplexe aufgegriffen und von Hunt organisch in die Erzählung eingefügt. Da ist der Sexismus, dem Ray auf der Arbeit im lokalen Dollar-Store begegnet, wenn ihre jüngere und wesentlich attraktivere Kollegin nicht bloß finanziell bevorzugt wird. Da ist der Rassismus einer weißen Polizei, die ihre Mohawk-Nachbarn stets doppelt streng behandelt. Und da sind die Native Americans selber, die keineswegs eine eindeutige Opferrolle einnehmen, sondern mit ihresgleichen ebenso kalt umspringen, was angesichts ihres wirtschaftlich abgekoppelten Reservats inmitten desolater Eiswüsten kaum verwundert.
Kaum subtil, dafür dank der ausgezeichneten Fotografie sehr effektiv, spiegeln die geisterhaften Winterlandschaften am Ufer des „Frozen River“ das Seelenleben der Figuren wieder. Auch hier bleibt Hunts Drehbuch konsistent und schildert das Verhältnis zwischen Ray und Lila ohne jegliche Spur von Sentimentalität. Die beiden sind keine Freundinnen, zu Beginn nicht und am Ende kaum mehr. Was sie eint, ist ihr Überlebenswille. Hunt geht es nicht darum, Rays Vorgehen zu hinterfragen – sondern darum, dass sie überhaupt die Kraft hat, den Herausforderungen als sozial schwache, alleinerziehende Mutter entgegenzutreten. Abseits aller moralischen Fragen feiert „Frozen River“ den Wert der Familie, ja der Zwischenmenschlichkeit überhaupt, als Gegenentwurf zum überwältigenden Materialismus und als Motor des Überlebenskampfes.
Und deswegen entgleitet „Frozen River“ trotz all der Finsternis nie ins Depressive. Ein kleines Kunststück, das vor allem dank Melissa Leos ausdrucksstarkem Spiel glückt. In ihrer heruntergekommenen Erscheinung vereinen sich Armut und Resignation, in ihrer Körpersprache Müdigkeit und der unbedingte Wille, dennoch nicht aufzugeben. Ihre Darstellung zeugt von mehr als dem Mut zur Hässlichkeit wie ihn zuletzt Charlize Theron in Monster bewies. Es sind die eingravierten Spuren eines knallharten Alltages, die auf und durch Leo sichtbar werden. Neben ihr fällt die restliche Besetzung zwangsweise ab, ohne deshalb zu enttäuschen. Mit der Nominierung Melissa Leos, die für ihre Leistung mit dem „Independent Spirit Award“ geehrt wurde, hat die Academy eine gelungene Entscheidung abseits des Mainstream gefällt, ebenso wie mit der Anerkennung von Hunts konzentriertem Drehbuch. „Frozen River“ ist eine sensible Beobachtung kritischer sozialer Verhältnisse, die ihre Fragen bewusst offen lässt, statt mit vorschnellen Antworten aufzutrumpfen. Ein sehenswerter Film, der den Pomp der Oscar-Verleihung gar nicht nötig hätte, wäre da nicht die willkommene Werbewirkung.