Die ruhmreichen Tage des Meisters sind Geschichte. Sein bisher letztes großes Werk liegt mehr als 20 Jahre zurück. Mit einem Comeback rechnen selbst die treuesten Fans von Dario Argento nicht mehr, seitdem der einstige Kultregisseur mit Mother Of Tears auch noch den Abschluss seiner legendären Mutter-Trilogie gegen die Wand gefahren hat. Insofern ist es nicht überraschend, dass Argento es auch mit seinem neuen Film nicht vermag, sich neu zu erfinden oder auch nur an frühere Erfolge anzuknüpfen. Aus den Tiefen des B-Movie-Sumpfs gelingt es dem 1940 geborenen Regisseur mit „Giallo“ aber zumindest für einige gelungene Augenblicke, die Nase noch ein letztes Mal aus dem Schlamm zu strecken.
Der Inhalt ist schnell erzählt: In Turin geht ein unbekannter Killer um, der es auf schöne Frauen abgesehen hat. Er betäubt und verschleppt seine Opfer, verstümmelt sie grausam und bringt sie schließlich um. Inspektor Enzo Avolfi (Adrien Brody) ist dem Mörder schon länger auf der Spur und verfolgt dabei auch persönliche Motive. Doch erst als ein berühmtes Model (Elsa Pataky) entführt wird, stößt Avolfi gemeinsam mit deren Schwester Linda (Emmanuelle Seigner) auf eine heiße Spur: Eine Überlebende murmelt Augenblicke vor ihrem Tod noch etwas von der Farbe Gelb...
„Giallo“, italienisch für gelb, ist ein vielsagendes Wort in der Filmgeschichte. Es bezeichnet eine Abart des italienischen Thrillers, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren erreichte. Viele bezeichnen Dario Argento als den Meister dieser Stilrichtung. Nach seiner frühen, lose zusammenhängenden Tier-Trilogie (Der Fluch der schwarzen Handschuhe, „Vier Fliegen auf grauem Samt“, „Der Fluch der neunschwänzigen Katze“) schuf Argento mit „Rosso – Farbe des Todes“ 1975 einen oft als bester Giallo überhaupt bezeichneten Film und machte sich zugleich als visueller Stilist von außergewöhnlicher Kraft einen Namen. Meisterwerke wie der Hexenfilm Suspiria, der kühle „Tenebre“ oder der Mystery-Film „Phenomena“ folgten. Heute ist von der Virtuosität Argentos nicht mehr viel übrig. Inspirationslose Stücke wie „Card Player“, „Sleepless“ oder zuletzt der wirre Mother Of Tears unterscheiden sich kaum noch von Horror-Dutzendware und lassen bestenfalls eine leise Ahnung der verschollenen Fähigkeiten des Meisters aufkommen.
Deshalb überraschen die eröffnenden 20 Minuten von „Giallo“ dann doch: Bereits der Vorspann, ein düsteres Farbenspiel zu treibender Musik von Marco Werba, versetzt den Zuschauer in die richtige Stimmung. Die ersten Szenen erinnern beinahe schon an die guten alten Zeiten Argentos: Parallel zeigt der Film das Treiben während einer Modeschau, übrigens eine deutliche Referenz an Bavas Giallo-Klassiker „Blutige Seide“, und die Entführung einer jungen, hübschen Frau durch einen Taxifahrer. Die nächtliche Fahrt durch die Stadt, die immer nervöser werdende Schönheit und die Augen des Kidnappers im Rückspiegel sorgen für wohlige Gänsehaut und lassen das nötige Giallo-Feeling aufkommen.
Auch im weiteren Verlauf offenbaren sich, anders als beim Vorgänger „Mother Of Tears“, immer wieder kurze Anflüge von Größe. Nach dem starken Auftakt im Taxi gibt es zumindest noch zwei erwähnenswerte Szenen: Eine längere Sequenz im Folterkeller zeigt den Killer als einen Hybriden aus dem Taxi Driver Travis Bickle, Rocky Balboa sowie Roark jr., dem gelben Stinker aus Sin City. Zwar schrammt Argento hier nur knapp an der Grenze der Lächerlichkeit vorbei, die Szene ist aufgrund ihrer Intensität aber trotzdem nicht ohne Reiz. Außerdem wird in „Giallo“ ungewöhnlich früh die Identität des Killers offenbart, was wie ein ironisches Spiel mit den Regeln des Genres anmutet. Ebenfalls spannend ist die Flucht von Lindas Schwester aus dem Labyrinth des Mörders, in deren jähem Ende noch einmal Argentos Können aufblitzt.
Insgesamt kann „Giallo“ das Niveau des Beginns jedoch nicht halten. Licht und Kamera (Frederic Fasano, Do You Like Hitchcock) sowie die schon erwähnte Musik sind zwar über die gesamte Filmdauer ein starkes Stützkorsett und auch der eine oder andere Regieeinfall überzeugt. Doch die Ankunft von Linda in Enzo Avolfis Kellerbüro markiert den Auftakt für einen stetig voranschreitenden qualitativen Abstieg. Argento hat selbst stilistisch offensichtlich nichts Außergewöhnliches mehr zu bieten. Das eine oder andere schöne Detail lässt sich zwar noch entdecken, fällt aber verglichen mit der ansonsten vorherrschenden Langeweile und der dröge erzählten Geschichte kaum ins Gewicht. Als absoluter Tiefpunkt erweist sich eine Szene, in der Inspektor Avolfi Linda von seinem Kindheitstrauma berichtet und erzählt, wie er den Killer seiner Mutter in einem Fleischerladen stellte. Galgenhumor als Ausweg aus der filmischen Misere?
Als noch größere Herausforderung an die Leidensfähigkeit des Zuschauers als die hanebüchene Story erweisen sich die Leistungen der Schauspieler. Wenn Quentin Tarantino (Inglorious Basterds, Pulp Fiction) Regie führt, werden auch drittklassige Darsteller regelmäßig zu außergewöhnlichen Leistungen anspornt. Bei Dario Argento ist das Gegenteil der Fall. Roman Polanskis Muse Emmanuelle Seigner (Schmetterling und Taucherglocke, Die neun Pforten) hat der Zuschauer selten so farblos erlebt wie in „Giallo“. Sie bekommt keine einzige Szene zugestanden, die ihre Figur interessant machen würde. Den Vogel schießt allerdings Adrien Brody (Der Pianist, Darjeeling Limited) ab, der hier mit der schlechtesten Leistung seiner Karriere aufwartet. Auch hier hilft dem Zuschauer nur noch ein gewisses Maß an Galgenhumor weiter, anders ist das hölzern-linkische Spiel Brodys nicht zu ertragen. Was den Oscarpreisträger dazu gebracht hat, „Giallo“ auch noch mit zu produzieren, bleibt ein Rätsel.
Viele Zuschauer, wenn sie denn überhaupt noch im Kinosaal sitzen, werden erleichtert sein, wenn endlich und dazu noch recht plötzlich das Finale durch die Tür stolpert. Dieses wirkt wie eine farblose Referenz an den großartigen Auftakt von Suspiria und kommt so lahm, lieblos und zufällig daher, dass fast der Eindruck entstehen könnte, Argento würde hier mit seinem Understatement bewusst die Erwartungen des Zuschauers enttäuschen wollen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, ist er seinem Anliegen voll und ganz gerecht geworden.