Der Rekord einer Genesis in sieben Tagen liegt wohl weiterhin beim ehrwürdigen Himmelsvater. Doch die Konkurrenz schläft nicht. James Cameron und Lewis Carroll sind solche anmaßenden Weltneuschöpfer. So unterschiedlich ihre Visionen sein mögen, haben sie doch einen zentralen Nenner: Die alttestamentarische Kreation mit ihren Gesetzen ist ihnen nicht gut genug. In Avatar schuf Cameron eine 3D-Utopie, deren blaue Bewohner in direktem Kontakt zur Planetenseele stehen. Carrolls „Alice im Wunderland“ von 1865 half dagegen, die große Faust-Frage zu entscheiden: Was auch am Anfang war, das Wort war es nicht. In seinem Wunderland herrscht Sinnfreiheit. Sprache und Identität werden zu Spielbällen zwischen Kinderphantasie und LSD-Trip. Mit seiner freien „Alice“-Interpretation versucht sich Tim Burton an einer Synthese der beiden Entwürfe: Schöpfung einer psychedelischen 3D-Welt und hintergründige Sinnentgrenzung. Eine Erzählung um den drohenden Verlust kindlicher Phantasie und eine erlesene Armada entfesselt aufspielender Darsteller - was kann da noch schief laufen? Leider ausgerechnet die triviale Dramaturgie aus der Feder von Disney-Autorin Linda Woolverton (Der König der Löwen, „Die Schöne und das Biest“), die bis zum konstruiert epischen Schlachtenfinale an der cleveren Prämisse sägt. Launiges Kino ist Burton dank knalliger Optik und einem bunten Strauß charmanter Episoden trotzdem gelungen.
Mit der Kindheit scheint es für Alice Kingsleih (Mia Wasikowska, The Kids Are All Right) vorbei zu sein: Familie und aristokratische Bekanntschaft erwarten eine euphorische Vermählung mit dem steif-versnobbten Geschäftsmann Hamish (Leo Bill). Wenn da nicht dieses wild mit einer Taschenuhr wedelnde Kaninchen (Stimme: Michael Sheen) wäre! Kurzerhand setzt Alice Prioritäten, folgt dem sonderlichen Wesen durch den Schlossgarten - und purzelt durch den Kaninchenbau. Endlos fällt sie - und dann wird der Traum wahr. Mit großen Augen stapft Alice durch die bunt schimmernde Anderswelt. Doch etwas stimmt nicht: Die despotische Königin in Rot (Helena Bonham Carter, Sweeney Todd) hat ihrer weißen Schwester (Anne Hathaway, Rachels Hochzeit) die Krone gemopst und das Reich unterjocht. Die Prophezeiung der blauen Raupe Absolom (Stimme: Alan Rickman) ist unmissverständlich: Nur Alice kann ihr die Stirn bieten, den grausamen Drachen Jabberwocky (Stimme: Christopher Lee) bezwingen und Wunderland befreien. Gemeinsam mit einem verrückten Hutmacher (Johnny Depp, Public Enemies, Fluch der Karibik) und einer myseriösen Grinsekatze (Stimme: Stephen Fry) begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise...
„Alice im Wunderland“ ist eine Literaturverfilmung der besonderen Art. Das Figurenkabinett wurde adaptiert, die Geschichte ist neu - quasi ein Sequel. Die Kindperspektive Carolls, der das surreale Wunderland noch als vollwerte Wirklichkeit galt, weicht hier einer all zu erwachsenen Beobachtung: Inzwischen ist Alice überzeugt, einen luziden Traum zu träumen und jeden Augenblick zu erwachen. Burton denkt die Vorlage weiter und entwickelt dabei ein eigenes Motiv; eine Klage über den Verlust kindlicher Phantasie, der wie eine Ausformulierung des Blind-Guardian-Klassikers „Imaginations From The Other Side“ anmutet: „Where's the wonderland that young Alice had seen? Or was it just a dream? I knew the answers, now they're lost for me.“ Ob er tatsächlich nur ein Produkt ihrer Phantasie sei, will der Hutmacher von Alice wissen. Und schließt daraus das eigene Ende, sollte seine mutmaßliche Schöpferin wieder erwachen. Das Traumgespinst wird seiner selbst bewusst und schält sich aus dem Kokon der Fiktionalität, der seine Existenz begrenzt. Hier gelingt Burton bewegendes Metakino: Eine Erzählung, die im Geiste Michael Endes (Die unendliche Geschichte) ihre eigene Genesis reflektiert.
Da wiegt umso schwerer, dass der Abenteuerplot gen Finale ins Triviale entgleitet. Nach gefühlt zahllosen „Alice“-Deutungen - vom hauseigenen Disney-Klassiker Alice im Wunderland über die Arthouse-Exzentrik eines Terry Gilliam (Tideland) bis zur Stop-Motion-Kunst Henry Selicks (Coraline) - besorgt die neue Geschichte zwar Wiedererkennungswert. Wenn Burtons Gothic-Ästhetik jedoch zugunsten eines zahnlosen Schlachtgetümmels à la Die Chroniken von Narnia aussetzt, wird der Sieg Disney'scher Familientauglichkeit über die künstlerische Handschrift des Regisseurs unangenehm offenbar. Als Antagonistin im simplen Gut-Böse-Schema taugt die rote Königin dabei kaum. Zwar verlangt sie auch hier alle Nase lang mit Hingabe weitere Enthauptungen, bedrohlich wirkt das ulkig überproportionierte Wesen aber zu keinem Zeitpunkt. Wie auch, ist sie doch ohnehin als Karikatur angelegt. In der Vorlage übernimmt sie sich mit ihren Todesurteilen tagtäglich dermaßen, dass auch das abendliche Kollektivpardon zur Routine wird. Ganz einfach, weil das rote Rumpelstilzchen sonst in Windeseile eine Königin ohne Volk wäre. Doch die Pointe hat es nicht in den Film geschafft, der bissige Witz Carrolls bleibt halb erzählt im Raum stehen.
Die kleinen Episoden am Wegesrand sind als Variationen der Romankapitel dagegen äußerst liebevoll inszeniert. Hutmachers Nicht-Geburtstagsparty etwa ist auch rund ein Jahrzehnt nach Alices erstem Besuch im Wunderland noch in vollem Gange, wenn auch in Zeiten der Tyrannei nunmehr vor dem Hintergrund einer Ruine. Hier lässt das Künstlerteam hinter „Alice im Wunderland“ so richtig die Sau raus. Burton malt ein morbides Gemälde auf die Leinwand, sein Hauskomponist Danny Elfman schwelgt in opulenten Arrangements und Johnny Depp dreht in seiner siebten Zusammenarbeit mit dem Regisseur völlig frei. Die neu gesponnene Handlung baut den verrückten Hutmacher, der bei Carroll nur kurze Auftritte hatte, maßgeblich aus. Das ist nur folgerichtig - Depp ist das darstellerische Großkapital des Films und in seinem ausgeflipptem Kostüm eine wahre Augenweide.
Auch der restliche Cast macht durchweg Laune. Burton-Gemahlin Helena Bonham Carter chargiert als zickig-naive Königin in Rot mit Depp um die Wette. An ihrer Seite grimassiert Crispin Glover (Zurück in die Zukunft) als Hofmarschall Stayne mit grotesk verlängerten Gliedmaßen. Schade: Auf die großartige Sprecherriege der CGI-Belegschaft - Christopher Lee (Herr der Ringe - Trilogie) als Jabberwocky, Michael Sheen (Frost/Nixon) als weißes Kaninchen, Alan Rickman (Harry Potter und der Halbblutprinz) als Raupe Absolom und Stephen Fry (V wie Vendetta) als Grinsekatze - muss das deutsche Publikum leider verzichten. Mia Wasikowska versucht gar nicht erst, sich mit der Extravaganz ihrer übergroßen Kollegen zu messen. Ihr amazonenhafter Schwert-und-Schild-Aufmarsch wirkt, der Fehlkonzeption des Finales entsprechend, zwar seltsam deplatziert. Dennoch gelingt es der Newcomerin, mit ihrer Alice auf der Schwelle vom abenteuerlustigen Kind zur frühreifen Frau, eine Identifikationsfigur zu schaffen und den Film zu schultern.
Es ist verlockend, sich mit Alice an den Spleens und Nonens-Sprachspielen der Wunderland-Bewohner zu erfreuen. Ebenso aber, mit ihr auf das unvermeidliche Erwachen zu warten. So hübsch die kunterbunte Fantasy-Panoramen auch sein mögen, eine eigene Welt hat Burton nicht erschaffen. Im Gegensatz zum bahnbrechenden 3D-Rausch Avatar hat die dritte Dimension hier kaum Mehrwert, die Welt kaum innere Geschlossenheit. Zu selten wird Raumtiefe ausgelotet, zu oft prallen heterogene Designs aufeinander. Die vom Hutmacher oder seinem Rivalen Stayne ausgehende psychedelisch-düstere Aura wird durch comichafte Aufmachung und oberflächliche Animation konterkariert, wenn zwei dicke Zwillingsjungs oder ein quadratmauliges Wächterbiest der roten Königin durchs Bild tapsen. Die visuelle Integrität oder gar der Schöpfergeist eines Cameron liegen hier in weiter Ferne. Es sind die kleinen Augenblicke geistreicher und mit Verve gespielter Carroll-Interpretation, die „Alice im Wunderland“ dennoch über weite Passagen unterhaltsam gestalten.