Realität, Fiktion und Virtualität: Schlagwörter, die in der heutigen Zeit von programmierbaren Orten zunehmend mehr an Bedeutung gewinnen. Und das Medium Film als Projektion einer meist fiktionalen Wirklichkeit beschäftigt sich seit jeher mit dem Grenzspiel von realen und virtuellen Welten. Der belgische Schriftsteller Nic Balthazar erzählt nun in seinem Regiedebüt „Ben X“ von dem jungen Ben, der sich vor der realen Welt flüchtend immer mehr in die Welt eines Online-Games zurückzieht - also auch hier das Thema der Realität und Virtualität. Dabei verschwimmen bezüglich besagter Ebenen im Film nach und nach die Grenzen von Computerspiel und Lebensbereich, vom Innen und Außen, da Balthazar dauerhaft den Protagonisten ins Zentrum des Geschehens setzt, und mit allerhand stilistischen Mitteln versucht, die Wahrnehmungen aus der Sicht des autistisch veranlagten Jungen bildlich darzulegen. Mit „Ben X“ etabliert sich aber ebenso ein interessantes Außenseiterdrama, das auf inhaltlicher Ebene Spannendes zu erzählen weiß, nur auch hier formal etwas über das Ziel hinausschießt.
Ben (Greg Timmermans) ist ein in sich gekehrter und zurückgezogener Junge, der mit seiner sich sorgenden Mutter (Marijke Pinoy) zusammenlebt. Ben redet kaum, zeigt selten Gefühle und jegliche Formen von Berührungen blockt er ab. Von den auf ihn ungefiltert einprasselnden Eindrücken des Alltags überfordert, flüchtet sich Ben in seinen eigenen virtuellen Parallelraum, in der er als heldenhafter Kämpfer des Onlinespiels „Archlord“ mutig jeglichen Gefahren trotzt. In dieser Welt begegnet er regelmäßig seiner Internetbekanntschaft Scarlite (Laura Verlinden), mit der er zusammen durch die programmierte Landschaft streift, und sich stark zu ihr hingezogen fühlt. Im Alltag hat Ben eher wenig zu lachen. Von seinen Mitschülern wird er für sein „Anderssein“ tyrannisiert, wobei vor allem die beiden Mitschüler Bogaert (Titus de Voogdt) und Desmet (Maarten Claeyssens) ohne Skrupel auf ihr Opfer einprügeln. Nachdem sie ihn selbst bis in den von Ben geschützt geglaubten Raum des Internets verfolgen und bloßstellen, fasst er einen Plan: Er will Schluss machen mit allem, um die tägliche Folter nicht mehr ertragen zu müssen.
Nic Balthazar hat mit „Ben X“ sein eigenes Jugendbuch „Nichts war alles, was er sagte“ für die große Leinwand verfilmt, und es ist beachtlich, mit was für einem akribischen Arbeitseifer er vorgegangen sein muss, um die Bilder, die er schon während des Schreibprozesses in seinem Kopf hatte, endlich auf Film zu bannen. Vor allem wird er sich immer wieder gefragt haben, wie man die psychische Labilität des Protagonisten visuell fühlbar machen kann. Sein Versuch mit dem nun vorliegenden Ergebnis ist prinzipiell ein lobenswerter, doch fragt man sich in diesem Fall dann doch: Warum nur? Denn Balthazar übertreibt es mit der Bilderflut, die da über einen hereinbricht maßlos. Ständig werden Filmsequenzen in Bens realer Welt gebrochen, und durch nervige Zoomeffekte und ähnlichem Firlefanz zur hippen Videoclipästhetik verfranzt. Die Kamera kreist permanent um die Hauptfigur, dass einem ganz schwindelig wird. Der visuelle Overkill ist nicht zu vermeiden, und wäre in dieser Ansammlung doch verzichtbar gewesen, da ein beträchtlicher Teil der Filmszenen von „Ben X“ in den Onlineraum von „Archlord“ eintaucht, und die Sehgewohnheiten des Zuschauers auf den Prüfstand stellt. Dort funktioniert das Wechselspiel von Realfilm und seinem virtuellen Pendant gut, und verdeutlicht die Grauzone zweier Wirkungsbereiche, in denen Ben sich regelmäßig bewegt. Außerhalb dieses Gebiets wäre aber weniger mehr gewesen, bekommt man allein durch die dargelegten Handlungen (und der sich immer nah am Körper bewegenden Kameraeinstellungen) sehr gut Bens gestörtes Verhältnis zur Außenwelt vermittelt und demnach, unter welch schlimmem psychischen Druck er zu leiden hat.
Zu diesem Eindruck tragen außerdem seine Klassenkameraden bei, allen voran die beiden Hauptschläger. Ihr Handeln ist nur noch als extrem (und auch etwas übertrieben) boshaft zu bezeichnen, und zeigt abermals Balthazars Hang, einen Schritt zu weit zu gehen, denn was Bens Mitschüler sich so alles leisten, ist schon ganz harter Tobak. Das wirkt an einigen Stellen unglaubwürdig, weil, und hier offenbart sich ein weiteres Problem, die als Schüler besetzten Schauspieler dazu allesamt recht alt sind. Hauptdarsteller Greg Timmermanns wirkt allein von seiner Statur in manchen Szenen schlicht zu groß und erwachsen für die an ihm verübten Taten. Die schauspielerischen Leistungen soll das aber in keiner Weise schmälern, denn die sind hervorragend, wobei vor allem Timmermanns die psychischen Probleme seines Charakters in den wenigen ruhigen Szenen glaubwürdig vermitteln kann. Auch Marijke Pinoy als Mutter bringt die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in ihren wenigen Auftritten auf den Punkt.
Letztlich sind vielleicht vor allem die die Filmästhetik betreffenden Kritikpunkte Eingeständnisse, die man an einen Film machen muss, der sich maßgeblich an ein jugendliches Publikum richtet, und somit einen gewissen Schauwert bedienen muss. Auf der diesjährigen Berlinale lief „Ben X“ bereits erfolgreich in der Sektion „Generation 14plus“. Und für die anvisierte Zielgruppe wird Balthazars Debüt sicher funktionieren. Vor allem das Ende des Films, das mit überraschenden Wendungen und einer wirklich eindrucksvollen Schlusssequenz aufwartet, kann versöhnlich stimmen, und nebenbei ein moralisches Gedankenpaket an junge Menschen heraushauen, bevor diese in der nächsten Unterrichtspause mal wieder unreflektiert wie eh und je auf den „Sonderling“ der Nachbarklasse einhauen. Und damit hätte „Ben X“ ja auch schon was geleistet.
Alle anderen können auf diesen Film dann doch irgendwie verzichten. Aber so verhält es sich ja auch im Onlinespiel. Die einen wollen es bis zum höchsten Level schaffen und wissen gar nicht wohin mit ihrer überschäumenden Begeisterung, die anderen interessiert es bereits nach der ersten blinkenden Information auf dem Bildschirm nicht mehr und gehen lieber ein Buch lesen: Game over.