Die Romane von Agatha Christie sind nicht nur deshalb so unheimlich beliebt, weil die geschickten Auflösungen der Kriminalstücke den Leser stets verblüffen, sondern auch, weil die Autorin in jedem ihrer Romane ein spannendes, von großer Menschenkenntnis zeugendes Figurenkabinett entwirft. Patricia Highsmith, die trotz ihren „Tom Ripley“-Büchern zwar einen Tick weniger berühmt als die „Miss Marple“-Schöpferin, aber mindestens genauso gut ist, geht in ihren Geschichten meist noch einen Schritt weiter: In Romanen wie „Die zwei Gesichter des Januars“ tritt der Kriminalplot komplett in den Hintergrund – zwar dreht sich die Story auch um Mord, im Mittelpunkt stehen jedoch Liebe und Hass, an denen die Protagonisten schlussendlich einer griechischen Tragödie gleich zugrunde gehen. Die Figuren scheitern an sich selbst und nicht an der Polizei oder spitzfindigen alten Damen. „Der Schrei der Eule“ des englischen Regisseurs Jamie Thraves ist nun eine der ersten Highsmith-Verfilmungen, die sich voll und ganz auf den Geist der Autorin einlässt, auch wenn er so bei der nach simpler Whodunit-Krimiunterhaltung verlangenden Zuschauerschaft wohl eher auf Ablehnung stoßen dürfte.
Robert Forrester (Paddy Considine, In America, Das Bourne Ultimatum) steckt gerade mitten in der Scheidung von seiner Frau Nickie (Caroline Dhavernas). Um ein wenig Abstand von seinem bisherigen Leben in New York zu bekommen, hat der erfolgreiche Industriedesigner einen Job in einer Kleinstadt angenommen. Abends beobachtet er immer wieder eine fremde Frau (Julia Stiles, Die Bourne Identität, Der Prinz und ich) durch ihr Küchenfenster. Das warme Licht und ihr zufriedenes Lächeln verschaffen ihm ein wohliges Gefühl. Als die Frau, sie heißt Jenny Thierolf, ihn beim Beobachten erwischt, reagiert sie nicht wie erwartet. Sie bittet Robert herein, unterhält sich lange mit ihm und verlässt schließlich sogar ihren Freund Greg (James Gilbert), um fortan mit Robert zusammen sein zu können. Diesem ist das gar nicht so recht. Er mag Jenny zwar, liebt sie aber nicht. Eines Nachts wird Robert von Greg ausgebremst, an einer Brücke kommt es zu einer Schlägerei. Robert landet einen Lucky Punch und Greg stürzt ins Wasser. Robert zieht seinen Gegner heraus und lässt ihn schwer benommen am Ufer liegen. Am nächsten Tag stehen die Cops vor seiner Tür. Greg ist spurlos verschwunden…
Es ist alles andere als ein Zufall, dass die erste Verfilmung von „Der Schrei der Eule“ aus dem Jahr 1987 ausgerechnet von Claude Chabrol (Die Brautjungfer, Kommissar Bellamy) stammt. Immerhin ist der französische Meisterregisseur berühmt dafür, auch in seinen kriminalistisch angehauchten Werken mehr Wert auf das Sezieren seiner Charaktere als auf die Entlarvung des Täters zu legen. Jamie Thraves hätte man einen ähnlichen Angang der Story nach seiner bisherigen Biographie wohl eher nicht zugetraut. Immerhin ist der Regisseur im Videoclip-Bereich groß geworden. Dennoch hält sich der inzwischen 40-Jährige in seinem ersten Spielfilm seit seinem Drama „The Low Down“ um einen Haufen Londoner Loser aus dem Jahr 2000 mit visuellen Spiränzchen angenehm zurück. Stattdessen konzentriert sich auch Thraves voll auf seine nicht gerade alltäglichen Figuren und fährt gut damit.
„Der Schrei der Eule“ beginnt als ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem Stalker und seiner Gestalkten. Dann kommt ein wenig Krimi, bevor der Film in ein intensives Psychogramm umsteuert, bei dem weder der Zuschauer noch die Figuren selbst mehr wissen, wer nun gut und wer böse, wer bei Sinnen und wer wahnsinnig ist. Das Finale, das erst eine gute Viertelstunde nach der eigentlichen Auflösung des Falles einsetzt, entpuppt sich dann gar als das einer klassischen Tragödie, in dem die Charaktere ihren vorgezeichneten, unabwendbaren Niedergang entgegenstreben. Natürlich ist manche Wendung und auch das konsequente Ende einer literarischen Überhöhung geschuldet, aber dank guter Darsteller, allen voran Paddy Considine, den man als Protagonist bis zum Abspann nur schwer einordnen kann, bleibt die Story dennoch glaubhaft. „Der Schrei der Eule“ ist eben eine Geschichte, die weit über das recht junge Genre des Kriminalromans hinausreicht und eher im Umfeld der griechischen Tragödien anzusiedeln ist.
Fazit: Im Gegensatz zu den meisten Patricia-Highsmith-Verfilmungen reduziert Jamie Thraves den Plot nicht auf seine Krimi-Elemente, sondern erzählt den zugrundeliegenden Roman mit all seinen unterschiedlichen Genreanklängen voll aus. Damit zählt „Der Schrei der Eule“ eindeutig zu den besseren Verfilmungen der nach Agatha Christie zweitberühmtesten Kriminalautorin des 20. Jahrhunderts.