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    Neandertal
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Neandertal
    Von Christian Horn

    Es nimmt nicht wunder, dass junge Regisseure in ihren Debütfilmen immer wieder Coming-of-Age-Geschichten erzählen, also ihre eigene Jugendzeit reflektieren. So haben es auch Ingo Haeb und Jan-Christoph Glaser in „Neandertal“ gemacht. Haeb setzte das Drehbuch aus biographischen Elementen zusammen, Glaser ermöglichte es mit seinem neutralen Blick, Verknappungen und nötige Dramatisierungen vorzunehmen. Gemeinsam haben sie dann die Regie übernommen und erzählen vom schwierigen Prozess des Erwachsenwerdens. Ihr Protagonist, Guido (Jacob Matschenz; „Kleine Kreise“, 1. Mai), leidet seit frühester Kindheit an Neurodermitis und versucht im Lauf des Films diese Krankheit in den Griff zu bekommen, indem er sich ein selbstbestimmtes Leben erkämpft. Dabei hilft ihm vor allem die Bekanntschaft zu dem egoistischen Tagelöhner Rudi (Andreas Schmidt; Sommer vorm Balkon, Fleisch ist mein Gemüse), der ihm den Weg in ein von gesellschaftlichen Zwängen befreites, vermeintlich erfülltes Dasein aufzeigt. Heraus gekommen ist eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, eine dreckige und unkonventionelle. Leider ist das Drehbuch ein wenig überladen und lässt die Geschichte stellenweise zerfasern.

    1990. Die Fußball-Weltmeisterschaft steht vor der Tür – die Ossis schon im Hausflur. Guido ist siebzehn und macht sein Abitur in der beengenden Kleinstadt Neandertal; er betrinkt sich mit Kumpels, lebt in einer scheinbar intakten Familie, pflegt zarten Kontakt zu einem Mädchen aus seiner Klasse und will vor allem eins: normal sein. Denn Guido leidet an Neurodermitis. Er wacht morgens auf, das Shirt klebt an seinem Körper und ein ständiger Juckreiz plagt ihn. Plötzlich erleidet er einen schweren Schub und muss ins Krankenhaus eingeliefert werden; von nun an ist die Neurodermitis für ihn nicht nur eine unangenehme Krankheit – sie macht ihm Angst. Er beginnt sein Umfeld zu hinterfragen und entdeckt Stück für Stück, dass die Fassade seiner Familie mehr bröckelt als seine eigene Haut. Davon desillusioniert, flüchtet er in die freigeistige Künstler-WG seines großen Bruders und lernt dort den deutlich älteren Rudi kennen. Schnell nimmt er ihn und dessen Lebensstil zum Vorbild: Drogen, Frauen, Partys – nimm dir, was du willst; achte zuerst auf dein eigenes Wohl, dann auf das der anderen. Und tatsächlich: Guidos Neurodermitis, die Krätze (wie Rudi sie nennt), geht zurück. Er ist normal geworden, aber nicht mehr derselbe wie davor. Und die Reise ist noch lange nicht vorbei.

    Es ist erfrischend, dass Ingo Haeb und Jan-Christoph Glaser in „Neandertal“ nicht die üblichen Themen des Jugendfilms abarbeiten, also: verzweifelte Liebe, Angst vor dem Ende der unbeschwerten Jugend oder Probleme mit den Eltern. Das alles wird zwar angesprochen und spielt auch eine gewisse Rolle, ist aber nicht das Wesentliche des Films. Das Thema ist vielmehr die Suche nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Altruismus und Egoismus, zwischen Nächsten- und Selbstliebe. Für Ingo Haeb, der das Drehbuch geschrieben hat und in seiner Jugend selbst an Neurodermitis litt, ist Guidos Krankheit ein Zeichen für die Unfähigkeit, sich von den Problemen anderer abzugrenzen. Das muss Guido also lernen, darf aber nicht so werden wie Rudi (auch wenn ihm das nicht bewusst ist), denn mit dem endet es auch nicht gut. Die stärkste Metapher dabei ist Guidos Haut: Wie ein Seismograph macht sie innere Probleme und Konflikte des Protagonisten sichtbar.

    Dass der Film bei der Erzählung ein wenig zerfasert, liegt vor allem daran, dass im Drehbuch zu viel verhandelt wird. Es gibt zu viel Personal, zu viele Konflikte und Möglichkeiten – und es ist unmöglich, sie alle zufriedenstellend zu erzählen. Und dann gibt es den Perspektivenwechsel: Stehen in der ersten Hälfte noch Guido und seine Krankheit im Zentrum der Erzählung – die Konstellationen und Themen bauen sich um diesen Konflikt herum auf –, kommen ab der zweiten Hälfte immer mehr Figuren und Probleme dazu. Als Guido etwa in der Hälfte des Films die Neurodermitis besiegt hat, entsteht ein Loch in der dramaturgischen Entwicklung, die Geschichte muss sich neu sammeln und einen neuen Motor finden. Das gelingt zwar in weiten Teilen, aber nicht gänzlich.

    Trotzdem: „Neandertal“ ist ein ganz anderer, ein ehrlicher und schmutziger Coming-of-Age-Film geworden. Es wird zwar auffällig viel Mühe in die Inszenierung von Drogentrips gesteckt (wozu eigentlich?), aber sonstige Klischees des Genres werden umschifft. Es gibt keinen Klamauk, keine gestellten Katastrophen und ähnliches. Und auch wenn der Film teilweise in zu viele Teile zerbröckelt, muss er doch als gelungen angesehen werden. Und als – im positiven Sinne – anders.

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