„Ein Märchen über Trauer, Lebensbewältigung und einen ungewöhnlichen Mann“: Diese originelle Mischung wollte der italienische Regisseur Antonio Grimaldi nach eigenem Bekunden mit seinem einfühlsamen Drama „Stilles Chaos“ schaffen. Gelungen ist ihm eine liebenswerte Geschichte, die eine ganz besondere Faszination ausstrahlt. Allerdings entfaltet das moderne Märchen nicht ganz die mögliche Wirkung, da seine Verankerung in der Realität zu sehr vernachlässigt wird. So bleibt die Persönlichkeit der Hauptfigur unterbelichtet, obwohl der Protagonist ständig präsenter Dreh- und Angelpunkt des Films ist. Mit der Konzentration auf einen solchen zentralen Charakter, der zudem noch die meiste Zeit des Films wartend auf einer Parkbank verbringt, verweigern sich Grimaldi und sein Hauptdarsteller und Drehbuchautor Nanni Moretti (Der Italiener, „Das Zimmer meines Sohnes“) einer gängigen Dramaturgie. Hier wird weder konsequent ein Plot vorangetrieben, noch streben die Macher Glaubwürdigkeit im Sinne eines äußeren Realismus an.
Pietro Paladini (Nanni Moretti) rettet bei einem Badeausflug eine Schwimmerin aus den Fluten. Wieder ins Ferienhaus zurückgekehrt, stirbt seine eigene Frau aus heiterem Himmel. Als Pietro einige Tage später seine Tochter Claudia (Blu Yoshimi) zum ersten Mal wieder zur Schule fährt, entscheidet sich der vielbeschäftigte Pay-TV-Manager dazu, vor dem Gebäude auf sie zu warten. Auch an den nächsten Tagen bleibt er einfach dort sitzen. Er benötigt die Zeit, um über sein Leben nachzudenken. Die Trauer über den plötzlichen Tod seiner Frau verdrängt er und zeigt seiner Tochter nichts davon. Die bleibt ihrerseits erstaunlich gelassen, was Pietros unterdrückte Emotionen widerspiegelt.
Regisseur Antonio Grimaldi schlägt einen zurückhaltenden Grundton an und legt sein Augenmerk in erster Linie auf die Schauspieler. Interesse weckt vor allem das Drehbuch von Hauptdarsteller Nanni Moretti nach einer Romanvorlage von Sandro Veronesi. Der ungewöhnliche Zugriff auf Themen wie Trauer und Krisenbewältigung ist ein großer Pluspunkt von „Stilles Chaos“, die Grundsituation der Alltagsverweigerung im herbstlichen Park verliert durch die ständigen Wiederholungen mit der Zeit jedoch einiges von ihrer Wirkung. Die Märchenstruktur befördert stattdessen eine ganz eigene Handlungslogik. Wer wahrscheinliche Verhaltensweisen erwartet, wird etwa von der Darstellung der beruflichen Sitation des Protagonisten und seines Aufstiegs irritiert sein. Kurioserweise steigen nämlich Pietros Karrierechancen trotz seiner vehementen Weigerung, den Weg ins Büro anzutreten. Der Einsiedler bekommt ständig Besuch von wichtigen Geschäftsleuten, die es hinnehmen, dass er sich momentan seinem Arbeitsleben komplett entzieht. Schließlich soll Pietro sogar Vizepräsident seiner Firma werden. Als schöne Pointe wird als einer der Gäste im Park Starregisseur Roman Polanski (Tanz der Vampire, Chinatown, Der Pianist) in einem kleinen Überraschungsauftritt aus dem Hut gezaubert.
Auch wenn sein Bruder Carlo (Alessandro Gassmann, Transporter – The Mission) oder seine von Liebeskummer geplagte Schwägerin Marta (Valeria Golino, Rain Man, Frida) Pietro besuchen, nehmen Grimaldi und Moretti einen Eindruck von Unglaubwürdigkeit in Kauf. Es ist nämlich durchaus überraschend, wie unbeteiligt selbst die Verwandten mit der abstrusen Situation umgehen. Die Strategie, diese Begegnungen mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit zu inszenieren und gleichzeitig darauf zu verzichten, den Reaktionen zwangsläufig einen psychologisch-realistischen Anstrich zu geben, legt die Konstruktion des Films frei. Einmal mehr behält das Märchen die Oberhand.
Trotz der teilweise arg reduzierten Handlung vermag „Stilles Chaos“ zu faszinieren. Das liegt vor allem an der hervorragenden schauspielerischen Leistung von Nanni Moretti. Er wird auf Schritt und Tritt begleitet, es gibt kaum eine Szene ohne ihn. Obgleich er mit nur wenigen Gesichtsausdrücken auskommt, lassen sich seine Gefühle stets erahnen. Pietro Paladini scheint zunächst zu versuchen, den plötzlichen Tod seiner Frau durch pures Nachdenken zu verarbeiten. Als er sich schließlich gezielt um Ablenkung bemüht, trifft Pietro ausgerechnet die Frau (Isabella Ferrari) wieder, die er aus dem Meer gerettet hat und beginnt eine Affäre mit ihr. Vor allem diese Wendung verleiht dem Protagonisten eine gewisse psychologische Glaubhaftigkeit, denn Pietro zeigt Schwäche und damit Menschlichkeit. Hier deutet sich eine dramatische Komplexität an, die durch den dominierenden Märchencharakter der Erzählung über weite Strecken zurückgedrängt wird. Auch wenn Moretti ohne Zweifel zu den Großen des italienischen Kinos zählt, können sein Charisma und seine Leinwandwirkung die Defizite in der Charakterzeichnung nicht vollständig ausgleichen. Ähnliches gilt für Morettis Film-Tochter Claudia, über deren Innenleben man noch weniger erfährt, die von Blu Yoshimi aber dennoch bemerkenswert aufgeweckt dargestellt wird.
„Stilles Chaos“ ist ein interessantes Beispiel des hierzulande nicht gerade überrepräsentierten anspruchsvollen italienischen Kinos. Regisseur Grimaldi hat zwar gewiss kein Meisterwerk gedreht, aber dennoch einen nachdenklichen und unterhaltsamen Film mit bemerkenswertem Mut zu Langsamkeit und Eigensinn geschaffen. Grimaldi und Moretti bleiben ihrer Grundidee konsequent treu und verweilen unter Verzicht auf die Ausschöpfung des vollen dramatischen Potenzials buchstäblich auf der Parkbank. Das Innehalten ist in „Stilles Chaos“ wichtiger als eine stringente auf den ersten Blick plausible Handlungsentwicklung. Ein Tipp: Nach Möglichkeit sollte der Film unbedingt in Italienisch mit Untertiteln gesehen werden, da hier die Emotionen besser transportiert werden.