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    Hansel & Gretel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Hansel & Gretel
    Von Jens Hamp

    In einem weit entfernten Land stießen vor nicht allzu langer Zeit kreative Köpfe bei ihrer Suche nach gruseligen Erzählungen auf einen alten Schatz. Begierig lasen sie Geschichten von tanzenden Schuhen, verzauberten Ballnächten und wohlschmeckenden Pfefferkuchenhäusern. Geistreich wie sie sind, verarbeiteten die fernöstlichen Gruselexperten die europäischen Märchen zu mysteriösen Filmen des Schreckens: „Red Shoes“ von Kim Yong-gyun beruht auf Hans Christian Andersens „Die roten Schuhe“ und „Cinderella“ von Bong Man-dae ist natürlich eine „Aschenputtel“-Adaption. Zuletzt besann sich der südkoreanische Regisseur Yim Pil-sung auf die Grimmsche Erzählung von „Hänsel und Gretel“ und verarbeitet deren Kernelemente ohne Hänsels international unverdaulichen Umlaut in „Hansel And Gretel“ zu einer moralischen Mysterygeschichte in kunterbunter Atmosphäre.

    Nach einem schweren Autounfall erwacht Eun-soo (Cheon Jeong-myeong) in einem dunklen Wald und wird vom Mädchen Hee (Sim Eun-kyung) zu einem entlegenen Haus geführt. Hier wohnt sie mit ihren beiden Geschwistern und den ewig fröhlichen Eltern. Doch die Fassade der quietschbunt eingerichteten Zimmer und der zuckersüßen Essgewohnheiten beginnt am nächsten Morgen zu bröseln. Ohne funktionsfähiges Telefon irrt Eun-soo im Wald umher, jede Richtung, die er einschlägt, führt ihn wieder zurück in den Schoß der Familie. Als die Eltern am zweiten Tag urplötzlich verschwinden, hat Eun-soo die Verantwortung für die drei Kinder – allerdings hüten diese ein finsteres Geheimnis…

    Man muss schon genau hingucken, um die Ähnlichkeiten zwischen der Grimmschen Märchenvorlage und Yim Pil-sungs Adaption zu erkennen. Zwar greift er zentrale Elemente wie das unheimliche Haus im Wald, das Streuen einer Brotkrumenspur und das herzhafte Verzehren süßer Leckereien auf, die eigentliche Handlung verfremdet er aber völlig, lenkt sie schließlich in eine gänzlich andere Richtung und verpasst ihr eine eigene moralische Botschaft. Dabei gelingt dem Regisseur und Drehbuchautor vor allem in der ersten Hälfte ein wunderbar mysteriöser Film, in dem besonders das phantastische Setdesign von Ryu Seong-hee (The Host) verzaubert. Wie in den Werken Terry Gilliams (Brazil), Guillermo del Toros (Pans Labyrinth) und Tim Burtons (Charlie und die Schokoladenfabrik) brodelt Yims farbenfroh-verspieltes Szenario vor surrealen Einfällen geradezu über. Menschen verwandeln sich in Puppen, mitten auf einer Waldlichtung steht eine blaue Tür, kleinen Holzfiguren wachsen Flügel und das Frühstück besteht aus süßen Backwaren, die mit unwahrscheinlichen grellen Zuckergussfarben überzogen wurden.

    Neben dieser optischen Völlerei verirrt sich Yim zeitweise auf inhaltlich verqueren Pfaden. Auslöser des eröffnenden Autounfalls ist ein Streit zwischen Eun-soo und seiner Freundin. Er teilt ihr am Telefon mit, dass er sich nicht in der Lage sieht, die Verantwortung seiner baldigen Vaterrolle zu tragen. Wenn sich dann die Kinder des vermeintlichen Hexenhauses nichts sehnlicher wünschen, als dass Eun-soo dauerhaft bei ihnen bleibt und sich um sie kümmert, dann wird die angestrebte Moral für den Protagonisten klar: Der junge Mann soll sich seinen elterlichen Pflichten stellen. Der Weg zu dieser Läuterung wird gesäumt von dezenten Verweisen an das klassische Gruselkino, die kaum mit dieser Wandlung in Beziehung zu setzen sind. Nachts rumpelt es auf dem Dachboden, der Wald wird zu Beginn nur von einer Laterne spärlich beleuchtet und Eun-soo kann geheimnisvolle Gespräche der Eltern belauschen.

    Die Dialoge drehen sich häufig im Kreis und vielversprechende Handlungselemente werden nur kurz angedeutet. So ist der Dachboden ein unendliches Labyrinth, aus dem kein Weg herausführt. Hinter der einsamen Tür auf der Lichtung verbirgt sich eine staubige Bibliothek, in der die Kinder ihre voll gemalten Hefte aufbewahren, und auch der aus der Märchenvorlage bekannte Kannibalismus wird kurzfristig eingeflochten. Diese äußerst interessanten Ansätze versanden allerdings rasch. Sie werden ebenso unvermittelt aufgegriffen wie fallengelassen.

    Ungeachtet dieser inhaltlichen Mängel ist „Hansel And Gretel“ aber eine zauberhaft-farbenfrohe Reise durch eine mysteriöse Märchenlandschaft, bei der vor allem die Musikuntermalung von Lee Byung-woo (A Tale Of Two Sisters, „The Host“) einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Dezent an Danny Elfman erinnernd spielt der Komponist mit kinderliedartigen Melodien, denen er einen atmosphärisch-finsteren Anklang verleiht. So entwickelt sich Yim Pil-sungs Ode an die Phantasie zu einem vorzüglichen Märchen für Erwachsene.

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