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    Die Unerzogenen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Unerzogenen
    Von Christoph Petersen

    Dass Kindererziehung ein angesagtes Thema ist, beweisen Woche um Woche die beachtlichen Einschaltquoten der RTL-Reality-Soap „Die Super Nanny“. Dabei tobt der große Erziehungsdisput doch mindestens schon seit Ende der 1960er Jahre: Der streng-autoritäre Führungsstil unserer Urgroßväter ist überholt. Ebenso definitiv falsch ist der krampfhafte Versuch, sich zum besten Freund seiner Sprösslinge zu erklären, wie es der antiautoritäre Ansatz der Alt-68er vorsah. Doch wo in der Mitte dieser beiden Extreme nun genau der richtige Weg liegt, ist noch immer stark umstritten. Die Regisseurin Pia Marais eröffnet mit ihrem saustarken Debüt, dem spannenden, sehr persönlichen Drama „Die Unerzogenen“, nun noch einen weiteren Blickwinkel auf dieses heiß umkämpfte Thema.

    Die 14-jährige Stevie (Céci Chuh) lebt wie eine Nomadin. Mit ihrer Hippie-Mutter Lily (Pacscale Schiller) zieht sie mehr oder weniger ziellos umher, die letzte Zeit haben die beiden in Portugal verbracht. Doch nun hat Lily ein Haus von ihrem wohlhabenden Vater geerbt und Stevies Erzeuger Axel (Birol Ünel) wurde aus dem Knast entlassen. Gemeinsam mit ihren Hippie-Freunden Ingmar (Georg Friedrich) und Eric (Joseph Malerba) nistet sich die kleine Familie in dem geerbten Haus in der ländlichen deutschen Provinz ein. Während sich die anderen in dieser bürgerlichen Umgebung weiterhin einen Dreck um Vorschriften und soziale Verantwortung scheren, wird Stevies Verlangen nach einem normalen und geregelten Lebenswandel immer stärker. Sie bastelt kleine Fotokollagen, indem sie ihren eigenen Kopf in die heile Welt anderer Familien klebt. Sie versucht Freunde zu finden, die sie mit Geld und Drogen besticht. Und sie meldet sich sogar selbst zur Schule an. Doch dann drohen Stevies Bemühungen erneut wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu fallen. Die Schlinge um Axels Hals, der abermals mit dem Drogendealen angefangen hat, zieht sich zu. Es sieht ganz so aus, als müssten Stevie und ihre Eltern wieder einmal weiterziehen...

    Es ist ein Leichtes, einen Film über Hippies in den Sand zu setzen. Entweder überzeichnet man seine Charaktere so stark, dass sie zu Karikaturen oder sogar Witzfiguren verkommen. Oder man kleistert seinen Film mit verlogenem Betroffenheitskäse zu. Und am schlimmsten wäre es wohl gewesen, wenn man die Hippie-Eltern zu gefühllosen Monstern erklärt hätte, aus deren Fängen es das Mädchen zu retten gilt. Dass Pia Marais diese Fehler allesamt nicht unterlaufen, hat einen einfachen Grund: Sie selbst ist in einer ähnlichen Umgebung wie ihre Heldin Stevie aufgewachsen, das Drehbuch (das sie gemeinsam mit Horst Markgraf geschrieben hat) schöpft somit aus ihren eigenen Erfahrungen. Man hat als Zuschauer nie das Gefühl, dass hier etwas beschönigt oder dramatisiert wird, die sensible Erzählung wirkt vielmehr vor allem eines: ehrlich. An ihrem Ende versteht man die Motivation der Erwachsenen, hat aber auch die zahlreichen feinen Risse entdeckt, die sich in ihren alternativen Lebensentwurf eingeschlichen haben. Und man hat einen tiefen Einblick in die erschöpfte Seele der jungen Protagonistin gewonnen. Ihr erbitterter Kampf um ein klein wenig Normalität, oder zumindest einen Hauch von Stabilität, ist zutiefst berührend.

    Hätte man als Casting-Director die Aufgabe, die Rolle eines 14-jähriges Mädchen zu besetzen, das sich wie selbstverständlich und ohne Angst unter Erwachsenen bewegt, eigentlich wie eine Erwachsene unter Erwachsenen agiert, könnte man es sich ganz einfach machen, und einfach eine ältere Schauspielerin für den Part besetzen. Doch die Macher von „Die Unerzogenen“ haben es sich nicht nur nicht einfach gemacht, sie haben sogar einen besonders steinigen Weg gewählt. Weil ihnen Ceci Chuh trotz ihres jungen Alters so extrem gut gefallen hat, sind sie das Wagnis eingegangen, Stevie von einer gerade mal 11-Jährigen spielen zu lassen. Und das Ergebnis gibt ihnen eindeutig recht. Ceci ist eine umwerfende Entdeckung, die alle um sich herum mit ihrem natürlichen, respektlosen Charme in Grund und Boden spielt. Und diese Einschätzung soll die durchweg hervorragenden Leistungen des übrigen Cast´ keinesfalls schmälern: Die erfahrene Theaterdarstellerin Pascale Schiller liefert in ihrer ersten größeren Kinorolle ein stimmiges, niemals denunzierendes Porträt einer Mutter, die zwischen der Liebe zu ihrer Tochter und ihrer Freiheitsliebe hin und her gerissen ist. Birol Ünel (Deutscher Filmpreis in Gold für Gegen die Wand, weitere beeindruckende Auftritte in Valerie und „Dealer“) brilliert als schroffer, ich-bezogener Vater. Und der immer mehr zum Nebenrollen-Star – jeder kennt sein Gesicht, kaum jemand seinen Namen - avancierende Georg Friedrich (Import Export, Das wilde Leben, Knallhart) liefert eine ultrasympathische Performance als Hippie mit Herz.

    Fazit: „Die Unerzogenen“ erzählt eine aufregend andere, aufwühlende Coming-of-Age-Geschichte, die man trotz ihrer außergewöhnlichen Thematik jede Sekunde für voll nimmt. Ein kleines Kunststück, das vor allem dem großartigen Cast und dem ehrlichen Drehbuch zu verdanken ist.

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