Auch ein Dokumentarfilm hat eine Art Drehbuch, oder zumindest ein feststehendes Konzept, doch so durchkalkulierbar, wie ein herkömmlicher Spielfilm können Dokus natürlich dennoch nie sein. Ein gutes Beispiel dafür, dass sich eine Doku auch in eine vollkommen andere Richtung entwickeln kann, als sich die Macher dies zu Anfang vielleicht vorgestellt haben, ist Lucy Walkers „Blindsight“. Eine Gruppe von blinden tibetischen Schülern besteigt gemeinsam mit ihrer blinden Lehrerin, einem blinden Mount-Everest-Bezwinger und erfahrenen Bergsteigern den Himalaja-Gipfel Lhakpa Ri. Was eine Feierstunde der Menschlichkeit hätte werden sollen, entpuppt sich im Endeffekt nun als sehr bissiger Film, der ganz sicher erheblich mehr kritische Töne anschlägt, als sich die Regisseurin zu Beginn vorgenommen hat.
Die in ihrer Jugend erblindete deutsche Sozialarbeiterin Sabriye Tenberken ist nicht nur die Gründerin der Organisation „Braille ohne Grenzen“, sie hat auch die erste Blindenschule Tibets eröffnet. Als Tenberken die Geschichte des Extrembergsteigers Erik Weihenmayer, der als Blinder den Mount Everest erklomm, zu Ohren kommt, hat sie eine Idee: Auch ihre Schüler sollen an einer solchen Klettertour teilnehmen. Und tatsächlich willigt Weihenmayer in dieses ambitionierte Projekt ein. Nach einigen Trainingstagen brechen Weihenmayer, Tenberken und sechs ihrer Schüler mit Unterstützung einiger erfahrener Profibergsteiger auf, um den 7100 Meter hohen Lhakpa Ri zu besteigen. Die Ziele sind klar: Zum einen sollen die Jugendlichen, die in ihrer Gesellschaft meist nur Ablehnung erfahren haben, Selbstvertrauen tanken. Zum anderen soll das Projekt auch beweisen, dass Blinde all das und vielleicht sogar noch mehr draufhaben, was auch Sehende tun können. Und so würde man von „Blindsight“ eigentlich erwarten, dass die Doku das Projekt und den Mut der Blinden feiert, dabei vielleicht auch immer mal wieder in den gigantischen Himalaja-Panoramen schwelgt. Zweiteres ist eindeutig der Fall, das Feiern hingegen weicht nach und nach immer mehr einer unerwarteten, aber begrüßenswerten kritischen Haltung.
Denn erstens kommt alles anders... und zweitens als man denkt! Und dies hat zuallererst einmal mit den Profibergsteigern, die das Projekt begleiten, zu tun. Diese sind nämlich zum größeren Teil egoistische, übermotivierte und -ambitionierte Spinner: Die meisten von ihnen verfahren ohne jegliche Rücksichtnahme nach dem „Fisherman’s Friend“-Motto: „Sind sie (die Berge) zu stark (steil), bist Du (blindes Kind) zu schwach!“ Als einige der Jugendlichen von der Höhenkrankheit niedergestreckt werden, drosseln die Bergsteiger keineswegs das Gas, sondern kündigen an einer Stelle sogar für den nächsten Tag die doppelte Distanz an. Keine Ahnung, was in diesen Köpfen vorgeht, aber als Zuschauer sitzt man konsterniert vor der Leinwand und schlägt sich aus lauter Verzweiflung die Hand gegen die Stirn. Sicherlich hätte die britische Regisseurin Lucy Walkers durch eine geschickte Auswahl des Materials diesen unangenehmen Teil der Bergbesteigung einfach unter den Tisch fallen lassen können, um so die humanistische Aussage ihres Films nicht zu gefährden. Aber diesen Fehler begeht Walkers nicht, stattdessen wird sie ihrer dokumentarischen Verantwortung voll gerecht und hält einfach drauf. So befassen sich die interessantesten Beobachtungen des Films allesamt mit den spannenden gruppendynamischen Vorgängen, die zwischen den verschiedenen Parteien (Bergsteiger, Betreuer, Jugendliche) stattfinden.
Im ersten Moment erscheint es sinnig, dass „Blindsight“ in Deutschland von dem spirituellen Filmverleih „TAO“ (One: Der Film, Gespräche mit Gott) in die Kinos gebracht wird. Immerhin gilt für viele immer noch die Formel: Himalaja = Tibet = Buddhismus = spirituelle Wahrheiten. Doch auf den zweiten Blick wirkt die Verbindung von Verleih und Dokumentation weit weniger stimmig. Denn Walker zeichnet in ihrem Film ein brutal-ehrliches Bild eines Buddhismus weit ab der stylishen, weichgewaschenen Modereligion, die Madonna und Co. als Buddhismus bezeichnen. Während im Christentum die Barmherzigkeit ein großes Gut ist, hat die Wiedergeburtstheorie des Buddhismus eine unnachgiebige Härte zur Folge. Wer ein gutes Leben gelebt hat, wird mit einem besseren nächsten Dasein belohnt – und andersherum. Schwache und Arme haben ihr Schicksal also verdient, weil sie in einem vorherigen Leben schlicht Mist gebaut haben. Dies gilt auch und gerade für die blinden Kinder. Für ihre Eltern eine Schande, werden sie aus der Gemeinschaft verstoßen. In dieser buddhistisch geprägten Gesellschaft ist die Blindenschule für sie die letzte und einzige Chance.
Fazit: „Blindsight“ ist eine gut gemeinte Dokumentation, die vor allem immer dann überzeugt, wenn sie vom eigentlichen Plan, ein humanitäres Projekt vorzustellen, abrückt und stattdessen unerwartet kritische Töne anschlägt.