Einen Film über das Sterben eines Kindes zu machen verspricht wenig Publikum und viele Fallen, in die man tappen kann. Manuela Stacke hat sich trotzdem an dieses schwierige Thema herangewagt – und mit „Mondscheinkinder“ ein bewegendes Drama geschaffen, das bei allem Ernst nie den Mut verliert. Mit der feinfühligen Erzählung einer ersten Liebe im Schatten einer unheilbaren Krankheit kann endlich wieder ein Kinderfilm aus Deutschland den nordischen Vorbildern das Wasser reichen. Dieser weckt auch bei den Erwachsenen tiefe Emotionen, denen man sich außerhalb des dunklen Kinosaales nur selten stellt und die weit über das eigentliche Thema hinaus weisen. Ein Plädoyer dafür, inmitten einer Realität, die so ist wie sie eben ist, immer wieder auf die Suche nach dem Reich der Phantasie zu suchen.
Lisa (Leonie Krahl) ist zwölf, still und lebt in einer düsteren Gruft. So sehen sie zumindest ihre Mitschüler. Statt sich bei Schulfesten zu engagieren, züchtet Lisa Algen und forscht nach deren Mindestbedarf an Licht für ihr Wachstum. Wenn die anderen ins Schwimmbad gehen, zieht sie sich zurück in die Wohnung mit den abgedunkelten Scheiben. Dort wartet ihr 6-jähriger Bruder Paul (Lucas Calmus) auf sie. Weil er an der unheilbaren Mondscheinkrankheit leidet, darf er nicht nach draußen, solange die Sonne scheint. Mit großer Hingabe kümmert sich Lisa um ihn und erfindet einen ganzen Kosmos für ihren kranken Bruder, in der er als Wesen vom anderen Stern durch den Weltraum düst, im Sauseschritt, und sie bringt die Liebe mit. Das vor der Außenwelt fast wie ein Geheimnis gehütete Leben der Familie gerät aus der Balance, als Lisa zum ersten Mal selbst der Liebe begegnet. Auf dem Schulhof, im echten Leben. Hin- und her gerissen zwischen den Anforderungen von Simon (Lucas Hardt), Paul und ihrer Mutter (Renate Kößner) lernt Lisa, ihre Rolle neu zu definieren.
Wie schwierig das ist, zeigt die beeindruckende Hauptdarstellerin Leonie Krahl. In seinem Debüt lässt das zierliche Mädchen durch die äußere Zartheit eine innere Stärke schimmern, die sich dagegen aufbäumt, vor dem Schicksal zu resignieren. Gleichzeitig schlummert in dem sehr früh erwachsen gewordenen Teenager eine verletzliche Seele, die in ihren unwirschen Reaktionen auf die Annäherungsversuche Simons zum Vorschein kommt. Dass die beiden trotzdem ihre erste Liebe gemeinsam erleben, verwundert an manchen Punkten, besonders bei Simon, der nach verständlicher Gekränktheit unversehens wieder die Versöhnung sucht. Erst als Lisa merkt, dass sie zwischen ihren aufkeimenden eigenen Gefühlen und dem Verantwortungsgefühl für den fordernden Bruder und die überforderte Mutter zerrieben wird, fasst sie Vertrauen und weiht ihren Freund in das Familiengeheimnis ein. Wie selbstverständlich dieser mit der Situation umgeht, ist erstaunlich, aber nicht unglaubwürdig – nur fast zu schön, um wahr zu sein.
Mit der Familienkonstellation untersucht Stacke ein Phänomen, das längst nicht so speziell ist, wie es zunächst durch die sehr selten auftretende Krankheit des Sohnes scheint. Der Vater ist so abwesend, dass er nicht einmal erwähnt wird, die allein erziehende Mutter ist am Ende ihrer Kräfte, so dass die Ältere der Geschwister deren Job mit übernehmen muss. Mehr noch, sie fühlt sich sogar verantwortlich für das Wohlergehen der Mutter. Der Schwierigkeit, in einem solch fordernden Umfeld seine eigene Identität zu entwickeln und die Balance von Egoismus und Verantwortungsgefühl zu finden, stehen heute viele Jugendliche gegenüber. Unter dem Brennglas der schweren Krankheit fokussiert sich in den „Mondscheinkindern“ die aktuelle soziale Realität und erhebt sich gleichzeitig zu einem Beitrag über die fundamentalen Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen.
Statt in das nach wie vor beliebte Lamentieren über die Aussichtslosigkeit der Lage oder die Widerspenstigkeit der Gefühle zu verfallen, legt Drehbuchautorin Katrin Milhahn ihren Figuren - und damit auch dem Zuschauer - die wunderbare Kraft der Phantasie in die Hände. Sie lässt Gegenwelten entstehen, in der die Werte vertauscht sind und das Schlimme seinen Schrecken verliert. Die kongeniale Umsetzung findet Stacke durch die Darstellung dieser Welt als klassische Zeichentricksequenzen. Damit wird auch auf ästhetischer Ebene klar, dass die Phantasie die Realität nicht bannen kann – sie erlaubt es jedoch, den Blickwinkel zu ändern und so ganz real die Gefühle zu verändern, mit denen wir auf die Realität reagieren. Dieses Plädoyer für die Kraft der Imagination erlaubt sich und seinen Protagonisten sogar, sich gegen die rationale Vernunft zu stellen, die manchmal das Augenmaß dafür verliert, das in extremen Situationen nur extreme Mittel wirken und die Realität aushebeln können. Zumindest eine Weile lang. Weit weg davon, die Thematik des Todes durch die Allegorie eines finalen Fluges zum anderen, dem eigenen Stern zu verniedlichen, nimmt Stacke ihr Publikum ernst – ob groß oder klein. Ein Unterfangen, das weitaus mehr Einfühlungsvermögen verlangt als die oft servierte Kinderbelustigung großer Produktionsfirmen, die, wenn überhaupt, voll und ganz auf eine Friede-Freude-Eierkuchen-Message setzen. Statt aufwändiger Effekte setzt Stacke voll auf ihre glänzenden Darsteller und landet damit mitten im Herzen der Zuschauer.
Das Geschwisterpaar Lisa und Paul erinnert in seiner trotz aller internen und externen Konflikte unverwüstlichen Versöhnlichkeit mit der Welt an die Vater-Sohn-Konstellation von Roberto Benignis „Das Leben ist schön“, in der ebenso wie hier angedeutet wird, dass das Kind sehr wohl den Ernst der Lage begreift und das Spiel um des Älteren Willen mitspielt, um dessen Verzweiflung zu mindern. Der gar nicht verträumte, sondern im Gegenteil eher aufgeklärte Blick von Lucas Calmus als Paul macht unmissverständlich klar, dass er sehr genau weiß, wohin seine große Reise geht. Sich trotzdem auf die Phantasie seiner großen Schwester einlassen zu können, zeugt von einer Reife, die der Film sich auch bei seinen Zusehern wünscht. Dafür wird ihnen ein wunderbarer Film geschenkt, der Emotionen auslotet, ohne sie zu überspannen.