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    Lügen macht erfinderisch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Lügen macht erfinderisch
    Von Julian Unkel

    Kaum ein Komiker hat das vergangene Jahrzehnt so geprägt wie Ricky Gervais. Die zusammen mit Stephen Merchant kreierte Sit-Com „The Office“ darf sich mit Fug und Recht als einflussreichstes Comedy-Format der Dekade bezeichnen und auch das Nachfolgeprojekt „Extras“ steht der Büro-Mockumentary in Sachen Biss und Qualität in fast nichts nach. Hinzu kommen unter anderem ein inzwischen zum Franchise ausgebautes Bestseller-Kinderbuch („Flanimals“), der (an Downloads gemessen) erfolgreichste Podcast überhaupt („The Ricky Gervais Show“), gefeierte Stand-Up-Auftritte und zahlreiche Auszeichnungen, darunter auch zwei Golden Globes, deren Verleihung er dieses Jahr zudem moderierte. Nur der Sprung nach Hollywood und damit auf die Kinoleinwand will bislang noch nicht so recht gelingen. Ghost Town unterhielt zwar als seichte romantische Komödie, war insgesamt aber viel zu harmlos, um über den Durchschnitt hinauszukommen. Und auch Gervais‘ neuestes Werk, die Komödie „Lügen macht erfinderisch“, die er zusammen mit Matthew Robinson schrieb und inszenierte, lässt seine Scharfzüngigkeit über weite Strecken vermissen.

    Die Handlung ist in einer Parallelwelt verortet, in der Menschen immer die Wahrheit sagen und das Wort „lügen“ nicht einmal existiert. Für manch einen Normalbürger wie den Drehbuchautoren Mark Bellison (Ricky Gervais) hat das unangenehme Folgen: Bei der Arbeit wird er von allen Seiten unverhohlen gemobbt, sein großer Schwarm Anna (Jennifer Garner, Operation: Kingdom, Elektra) findet ihn zwar recht sympathisch, möchte aber unbedingt hübsche Kinder – weshalb der pummelige, stupsnasige Mark als potenzieller Vater natürlich nicht in Frage kommt, was sie ihm auch offen mitteilt. Als er dann auch noch entlassen wird und sich die Miete nicht mehr leisten kann, steht Mark vor den Ruinen seines Lebens – bis ihn ein sprichwörtlicher Geistesblitz ereilt und er die erste Lüge der Menschheit ausspricht. Und es bleibt nicht die letzte: In kurzer Zeit lügt sich Mark an die Spitze der Gesellschaft...

    Wie lange eine einzelne gute Idee einen Film tragen kann, lässt sich im Fall von „Lügen macht erfinderisch“ leicht beantworten: ungefähr eine halbe Stunde. So lange macht es Spaß, sich die Auswüchse einer lügenfreien Welt anzusehen. Für Spielfilme, die ja grundsätzlich erfundene Geschichten erzählen, bedeutet das beispielsweise, dass sie in dieser Parallelwelt nur einen Schauspieler zeigen, der vor der Kamera penibel recherchierte, historische Ereignisse nacherzählt. Kein Wunder, dass Mark, der als Drehbuchautor das 14. Jahrhundert zugeteilt bekommen hat, damit wenig Erfolg hat. Ähnlich amüsant gestalten sich auch die anderen Gesellschaftsbereiche: Bei ersten Dates sagen sich die Gegenüber von Anfang an, was sie voneinander halten. Öffentliche Einrichtungen tragen wirklich passende Bezeichnungen, Altenheime heißen hier etwa „A sad place for old people“. Und auch Werbeslogans bleiben auf dem Boden der Tatsachen, wie auch der von Pepsi: „Falls mal gerade keine Coca-Cola zur Hand ist.“

    Spätestens wenn Mark in einer viel zu langen Szene das Christentum erfindet und der Film kurzzeitig zur Religionssatire mutiert, wird aber deutlich, dass Gervais und sein Co-Autor ihre Ausgangsidee weder konsequent zu Ende gedacht noch gewusst haben, wie man daraus eine vollwertige Geschichte entwickeln könnte. Gerade die für das ansonsten so konservative Genre der romantischen Komödie (inklusive der obligatorischen kirchlichen Trauung am Schluss) so provokante Aussage, dass es ohne Lügen auch keine Religion geben könnte, böte ebenso wie das angerissene Theodizee-Problem genug Material für satirische Spitzen – mehr als ein paar oberflächliche Witze hat „Lügen macht erfinderisch“ hierzu aber nicht zu bieten.

    Von jeglichem Humor verlassen gibt sich dann der Schlussakt, wenn die Handlung ungelenk doch noch in gewohnte Rom-Com-Gefilde umgebogen wird und Anna sich kurz vor der Hochzeit mit Marks Erzrivalen Brad (Rob Lowe, „The West Wing“) – die in einer Kirche stattfindet, was nur eines der größeren Logiklöcher des Films ist – doch noch für Mark entscheidet. Die Botschaft, dass die inneren Werte eben doch mehr zählen, ist so plakativ wie banal, gleichzeitig aber auch ausgesprochen heuchlerisch: Denn was, wenn nicht primär ihr Aussehen, findet Mark an der oberflächlichen und egozentrischen Anna, die ihm immer wieder vorhält, wie fett und hässlich er sei, sonst bitteschön anziehend? So bleibt „Lügen macht erfinderisch“ trotz des gelungenen Auftakts und einer ebenso gut aufgelegten wie namhaften Darstellerriege (in den Nebenrollen drücken sich unter anderem Tina Fey und Jonah Hill sowie in Cameos Philip Seymour Hoffman, Jason Bateman und Edward Norton die Klinke in die Hand) eine bisweilen sogar ärgerliche Enttäuschung. Bleibt zu hoffen, dass Gervais bei dem kommenden Cemetery Junction, bei dem er wieder mit Stephen Merchant zusammenarbeitet, zu alter Form zurückfindet.

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