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    Nachmittag
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Nachmittag
    Von Sascha Westphal

    Wirklich ideal war der Begriff der „Berliner Schule“ eigentlich nie. Ihm haftete von Anfang an, also seit ihn ein Kritiker in den späten 90er Jahren mit Blick auf die frühen Filme von Christian Petzold, Thomas Arslan und Angela Schanelec prägte, etwas Provisorisches an. Wie alle kritischen Label erzwingt auch er eine Einheit, wo doch eigentlich Vielfalt und sogar Widersprüche herrschen. Aber derartige Begriffe erleichtern einem nun einmal das Sprechen und das Schreiben über eine ganze Reihe von Filmen. Außerdem weiß mittlerweile jeder, was man sich unter den Werken der „Berliner Schule“ vorzustellen hat – selbst all jene, die noch nie eine der Arbeiten Christian Petzolds oder Angela Schanelecs, Valeska Griesebachs oder Christoph Hochhäuslers gesehen haben. Sie sind spröde, ihre Geschichten meist eher alltäglich, und ihre Regisseure haben eine Vorliebe für lange, oft bewegungslose Einstellungen. Aber genau in diesem festen Bild liegt der Fluch dieses Labels. Niemand käme auf die Idee, die Regisseure der Nouvelle Vague oder des New Hollywood gleichzusetzen. Diese Begriffe benennen Bewegungen und Entwicklungen, lassen den Filmemacher aber ihre Individualität. Wenn dagegen von der „Berliner Schule“ die Rede ist, dann bekommt man schnell den Eindruck, die ihr angehörenden Regisseure seien untereinander austauschbar. Natürlich kann man sich, wie es im Zuge der diesjährigen Berlinale ständig geschehen ist, vor allem auf die oberflächlichen Gemeinsamkeiten zwischen Angela Schanelecs melancholischem Familiendrama „Nachmittag“ und den neuen Filmen ihrer Weggefährten, Arslans Ferien und Petzolds Yella, konzentrieren. Nur wird man damit niemandem gerecht, und schon gar nicht Angela Schanelec, die mit ihrer Variation auf Anton Tschechows bittere Komödie „Die Möwe“ erneut beweist, dass sie derzeit zu den radikalsten Stilisten des Weltkinos gehört.

    Eigentlich verbindet die wenigen noch verbliebenen Mitglieder dieser Familie nichts mehr. Jeder hat sich von den anderen isoliert. Das gilt für die egozentrische Schauspielerin Irene (Angela Schanelec) genauso wie für ihren älteren Bruder Alex (Fritz Schediwy) und ihren Sohn Konstantin (Jirka Zett). Auch die 19-jährige Agnes (Miriam Horwitz), die seit einem Jahr in einer anderen Stadt studiert, hat sich mittlerweile aus dem Bann Konstantins und seiner Boheme-Familie gelöst. Trotzdem kehrt auch sie, die im Nachbarhaus aufgewachsen ist, wie Irene in den Sommerferien in Alex’ idyllisch an einem See gelegene Villa zurück. Man hat sich nichts mehr zu sagen. Vor allem Irene und Konstantin, der sich als Dramatiker versucht und schon seit einiger Zeit seinen schwerkranken Onkel pflegt, führen einen ständigen, in Blicken und Andeutungen ausgetragenen Kleinkrieg. Aber den letzten Schritt in ein Leben jenseits der anderen wagt dennoch keiner von ihnen. Und so geht man im See schwimmen, spielt mit Agnes’ kleiner Schwester Mimmi oder sitzt einfach nur träge auf der Veranda herum. Langeweile und Müdigkeit greifen besonders an den Nachmittagen um sich und erzeugen eine beinahe bleierne Atmosphäre. Aus der sie auch Irenes zu ihnen stoßender Liebhaber, der Schriftsteller Max (Mark Waschke), nicht erlösen kann. Aber zumindest kommt mit ihm ein wenig Bewegung in Agnes’ Leben.

    Zuerst ist da nichts als Schwarz. Dann setzt sich schleppend, mit einem lauten metallischen Ächzen eine schwere Maschinerie in Gang. Es ist der eiserne Vorhang eines Theaters, der sich da langsam hebt und den Blick freigibt, auf einen beinahe leeren Zuschauerraum. Die Kamera verweilt weiter stoisch auf ihrem Platz irgendwo im hinteren Teil der Bühne. Der Regisseur und seine Assistentin beobachten die Probensituation. Aber sie sind weit weg, wirken isoliert und seltsam bedeutungslos. Selbst die Schauspielerin, die vorne an der Rampe mit einem großen Hund spielt und sich darüber beschwert, dass ihre Tasche zu schwer sei, wirkt irgendwie verloren, zumal auch noch ständig Techniker und Handwerker an ihr vorübergehen und damit die Künstlichkeit der Bühnensituation betonen.

    Nach diesem Vorspiel auf dem Theater kehrt der Film nicht mehr zur Bühne zurück. Später wird Agnes zwar gegenüber einem gänzlich desinteressierten Konstantin von Irene und ihrem Auftritt mit einem Hund schwärmen, aber auch das bleibt nur eine Vignette am Rand. Nur ein Hinweis mehr auf die Welten, die die Menschen bei Angela Schanelec trennen. Trotzdem brennt sich einem diese erste Einstellung regelrecht ins Gedächtnis ein. Dieser ungewöhnliche und auch ein wenig verstörende Blick von den Brettern, die die Welt bedeuten, auf die jenseits von ihnen liegende wirkliche Welt gibt die Perspektive vor für alles, was folgt. Hier blickt eine Filmemacherin aus dem Blickwinkel des Theaters, also der Kunst, auf die Menschen und ihre kleinen Dramen. Insofern ist es nur konsequent, dass sie selbst in die Rolle der Schauspielerin Irene geschlüpft ist.

    Zum einen ist Angela Schanelec, in deren Spiel Zerbrechlichkeit und Aggressivität immer Hand in Hand gehen, prädestiniert für diesen Part. Schließlich gibt Irene ihr Desinteresse und ihre Egomanie als Schutzmechanismen aus, hinter denen eine fragile Künstlerin Zuflucht sucht. Zum anderen gibt sie so diesem Vexierspiel um Kunst und Leben, Theater und Wirklichkeit eine weitere Facette. Ihre Doppelfunktion als Schauspielerin und Regisseurin, also als Objekt der Betrachtung und als betrachtendes Subjekt, unterstreicht noch einmal die zentrale Ambivalenz der menschlichen Existenz. Jeder ist immer und überall zugleich sein eigener Darsteller und sein eigener Regisseur. Irene und die anderen sind eben nicht nur Widergänger der Figuren aus Čechovs „Möwe“, sie alle reden und handeln auch so, als seien sie Protagonisten in einem Theaterstück des großen Dramatikers. Das Leben ergibt erst dann einen Sinn, wenn man es als Tragödie, oder wenigstens als Komödie, inszenieren kann.

    Bevor Angela Schanelec 1990 ihr Filmstudium an der dffb aufgenommen hat, war sie schon als Schauspielerin an verschiedenen deutschen Bühnen, unter anderen am Schauspielhaus Bochum und der Berliner Schaubühne, aufgetreten. Und bis heute ist sie dem Theater in ihrem Kino treu geblieben, nicht nur in den Szenen, die direkt auf die Bühne Bezug nehmen, oder durch die Wahl ihrer Stoffe und Figuren. Wie zahlreiche Filme von Jacques Rivette, dem Rätselhaftesten unter den Regisseuren der Nouvelle Vague, sind auch Schanelecs Arbeiten doppelbödige (formale) Reflexionen über das Verhältnis von Kino und Theater. Sowohl ihre Groß- und Nahaufnahmen, die in „Nachmittag“ ein besonderes Gewicht haben, als auch die für sie so typischen Einstellungen, die immer wieder die gerade sprechenden Figuren aus dem Bildkader verbannen, haben etwas Theatrales. Ihr Blick, ihre von einem wahrhaft einzigartigen Stilbewusstsein getragene Kadrierung, nimmt die Welt als Bühne wahr. So wie ihre Figuren als ewige Schauspieler um die Aufmerksamkeit der anderen ringen, müssen sie auch um ihren Platz auf der Bühne kämpfen. Das Off, der Bereich jenseits der Einstellung, ist dabei die eigentliche Heimat des Menschen. So sehr sie sich alle auch anstrengen, als Helden des eigenen Dramas bleiben sie doch immer nur Randfiguren in den Dramen der anderen.

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