Warum geht man ins Kino? Bedient man psychologische Kategorien, wäre eine mögliche Antwort die Folgende: Im Leben sind wir in einem hohen Maße Reizen ausgesetzt, die ungeordnet und in unbändiger Fülle auf uns einströmen. Wir sondern aus, verdrängen, filtern oder wenn man so sagen möchte, man nimmt selektiv wahr. Im Kino ist die Sache anders. Es wird einem, in geordneter Form, eine konzentriertes, reduziertes und komprimiertes Narrativ gezeigt, wie man es im echten Leben nicht sehen kann, da im Film Belangloses im Regelfall ausgespart wird. Mit „Karger“, dem Spielfilmdebüt der Regisseurin Elke Hauck, kommt ein Film in die Lichtspielhäuser, der eher das normale, banale Leben abbilden will – in dem Falle das Leben eines Stahlarbeiters in Sachsen – als eine dramaturgisch ausgefeilte Geschichte erzählt und überschreitet dabei vielfach die Grenze zur Trivialität.
Karger (Jens Klemig) arbeitet als Stahlarbeiter in einer Fabrik, die, als Relikt einer früheren Zeit, damals Kombinat genannt, mit einer stetig schrumpfenden Belegschaft noch betrieben wird. Seine Frau Sabine (Marion Kuhnt) hat die Scheidung von ihrem Mann forciert, der jedoch selbst nicht versteht, aus welchen Gründen die Trennung vonstatten geht. Das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Clara (Nele Boberach) bleibt gleichberechtigt auf beide Parteien verteilt und sichert das weitere Zusammentreffen der Eltern, welches bisweilen die Fortführung der ehelichen Pflichten beinhaltet. In der Folge verliert Karger seinen Job in der Fabrik, was ihm eine üppigere Freizeit einbringt, in der er sich Kind und Ex-Frau bzw. anderen Familienangehörigen widmen kann. Auf seinen, nun ausgedehnten, Touren durch Kneipen und Clubs lernt Karger die Kellnerin Ulrike (Anja Dietrich) näher kennen, die in seinem Stammlokal eingestellt wird. Der Herzinfarkt, der Kargers Vater ereilt, verkompliziert die familiäre Situation zusätzlich, ebenso die zunehmende Entfremdung von Sabine. Im Gegenzug wird Kellnerin Ulrike Karger immer vertrauter…
Die Idee zu „Karger“ entstammt dem privaten Umfeld der Drehbuchautorin und Regisseurin Elke Hauck. Bei einem Klassentreffen beginnt sie sich für die Schicksale ihrer ehemaligen Schulkameraden zu interessieren. Insbesondere derjenigen, die ihre Heimat nicht verlassen haben, und ihren Lebensweg dort zu erfüllen gesucht haben. Sie begann vor Ort – d.h. in dem kleinen Ort Riesa in Sachsen – zu recherchieren und fand viele Menschen, die eine ähnliche Laufbahn eingeschlagen hatten. Daraus kristallisierte sie das Drehbuch zu „Karger“. Wertet man den Film als reine Milieustudie, erhält man wohl ein realistisches Bild eines typischen Einheimischen dieser Gegend. Allerdings stellt sich die Frage, weshalb die Regisseurin, wäre dies ihr Anliegen gewesen, nicht zum Dokumentationsgenre gegriffen hat. Anscheinend sollte doch noch mehr erzielt werden, als eine reine Veranschaulichung der Lebensumstände.
Da es sich um einen Spielfilm handelt, ist es nur legitim, die schauspielerische Leistung der Akteure unter die Lupe zu nehmen. Dabei handelt es sich durch die Bank nicht um professionelle Schauspieler, die im Film agieren, sondern um Menschen, die nie zuvor vor der Kamera gestanden haben. So ist zum Beispiel Jens Klemig ein gelernter Maurer, Hochbaumeister und Bootsbauer, der momentan jedoch arbeitslos ist; Marion Kuhnt ist gelernte Facharbeiterin für Schreibtechnik und im Moment als Tierpflegerin tätig; Anja Dietrich hat eine abgeschlossene Lehre als Hotelfachfrau und ist seit kurzem in einem Netto-Supermarkt angestellt. Gemessen an ihren durchaus fachfremden Ausbildungs- und Betätigungsfeldern haben sich die Darsteller nichts zuschulden kommen lassen, wenngleich ihr Spiel vor der Kamera oft sehr bemüht und gekünstelt wirkt. Viel schwerer wiegt die Frage, weshalb im Film so besetzt wurde, ob es dem Zweck dienlich war und inwieweit die Wirkung geglückt ist.
Man darf wohl, ohne der Gefahr der Überinterpretation zu erliegen, annehmen, dass mit der Besetzung ein hohes Maß an Authentizität erreicht werden wollte. Durch die ungewohnte Situation der Protagonisten vor der Kamera zu sprechen, und damit einhergehend, der unnatürliche Ausdruck im Gesagten und den Gesten, entsteht jedoch ein gänzlich anderer Effekt. Die Illusion, dass man den echten prototypischen Arbeiter, die echte Kellnerin oder den echten Familienvater sprechen hört, wird permanent durch die, ja tatsächlich echten, Darsteller konterkariert. Nimmt man dies als Ausgangspunkt für die weiteren Betrachtungen, begibt man sich zwangläufig in den Bereich der Spekulation darüber, was erzielt werden sollte, bzw. was erreicht werden konnte. Was den Genuss von „Karger“ unzweideutig erschwert, ist das Fehlen einer Identifikationsfigur, in die man sich einfühlen kann, die einem den Einstieg in die Handlung ermöglicht. Karger selbst kann dazu nicht dienen, da er nach außen hin kaum bis gar keine Gefühle zeigt, was zugegebenermaßen auch zu seinem Charakter passt. Über alle anderen Figuren erfährt man überdies zu wenig, als dass sie als Alternative in Frage kämen.
An diesem Punkt fangen dann auch die Spekulationen über die Intention – ganz im Bewusstsein, dass dieses unsägliche Kriterium eigentlich keinerlei Relevanz haben dürfte – des Drehbuchs an. Auf der einen Seite ist da zwar die Emotionslosigkeit Kargers, die Schwierigkeiten bereitet. Auf der anderen Seite könnte dies jedoch auch Kalkül, und damit mit einer bestimmten Wirkung verbunden sein. Seine Verhaltensweisen und die Sprechpassagen seiner Rolle könnten einen Hinweis darauf geben. Die „karge“ Anlage Kargers Charakter führt dazu, dass das ganze Geschehen, das zur Gänze um seine Person herum angelegt ist, zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist. Kein noch so harter Schicksalsschlag vermag Karger aus der Fassung zu bringen. Die Situation, in der er mit seinem Vorgesetzten in einem Raum ist und von seiner Kündigung erfahren soll, quittiert er mit dem Satz: „Mach kein Drama daraus.“ Und genau das trifft paradigmatisch auf den gesamten Film zu. Scheidung, Arbeitslosigkeit, möglicher Tod des Vaters, Provokationen durch Jugendliche – alles hat an Bedeutung verloren. Nichts davon hinterlässt lesbare Spuren auf der Figur Karger. Das klingt zunächst sogar ein wenig subversiv, denn das Mitleiden mit dem Helden ist seit Jahrtausenden in der Kunst eine Qualität, welcher sich nur die Besten verwehren konnten. Insofern könnte man „Karger“ möglicherweise bis zu einem gewissen Grade auch subversiv bezeichnen, denn das Identifizieren wird hier radikal verweigert. Allerdings erkaufte man sich dieses Siegel um den Preis schrecklicher Langweile.
Diese unerträgliche Langeweile des Seins, respektive des Films, verlangt dem Betrachter ein weiteres Mal die Frage ab, welches Ziel, wenn es überhaupt eines gegeben hat, oder geben kann, verfolgt worden ist. Geht man die Sache stilistisch an, gelangt man ans Ende des 19. Jahrhunderts in die Epoche des Realismus. Hier wurden unzählige Male die Arbeiter ins Visier genommen – sie wurden bei der Arbeit, bei der Rast, beim Gang in die Fabrik etc. gezeigt. Dabei sind gerade die Szenen in dem Stahlwerk, in dem Karger sein Tagwerk vollbringt, beeindruckend nahe an diesem Vorbild und haben damit einen reizvollen romantisierenden, anachronistischen Touch. Doch auch im Bereich der Stilistik herrscht keine Einheitlichkeit vor. Die Szenenbildnerin ist mit Akribie ans Werk gegangen und arbeitet in der Ausstattung mit vielen kleinen Details, die sehr bewusst Querverweise evozieren, versuchen ironisch Verknüpfungen zu aktuellen oder vergangenen Situationen herzustellen, und damit die Bildwelt symbolisch aufladen. Das Potential, das durch sicherlich mühevolle Kleinstarbeit hergestellt wurde, geht jedoch in der schieren Bedeutungslosigkeit, die das Geschehen um Karger bekommt, unter.
Belanglosigkeit und Langeweile auf die Leinwand bannen zu wollen, was an sich kein verwerfliches Unternehmen ist, und bereits mit erlesenen Scharfsinn von Altmeister Robert Altman in Gosford Park vorgenommen wurde, stellt an sich ein schwieriges Unterfangen dar. Elke Hauck bleibt mit „Karger“ versagt, hierbei ebenfalls zu reüssieren.