Eine der immer noch umstrittensten psychiatrischen Diagnosen ist die multiple Persönlichkeitsstörung. Sie bezeichnet das Vorhandensein von zwei oder auch mehr voneinander abgrenzbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen innerhalb eines Körpers, welche die Krontolle über das Verhalten des betroffenen Individuums übernehmen. Besessenheit, die man als Inbesitznahme eines Menschen durch eine andere lebende oder tote Person, einen Dämon oder auch den Teufel selbst versteht, von einer multiplen Persönlichkeitsstörung abzugrenzen, ist überaus schwierig, fällt jedoch sowohl Schulmedizinern als auch Esoterikern aufgrund ihrer jeweils klar ausgerichteten Sichtweise leicht: Während die einen Besessenheit als veralteten Aberglauben pauschal abtun, sehen die anderen multiple Persönlichkeiten als Beweis für die Existenz des Übernatürlichen. Der Mystery-Thriller „Dorothy Mills“ beschäftigt sich mit einem ganz besonderen Fall von Persönlichkeitsspaltung beziehungsweise Besessenheit auf einer von gläubigen Christen bewohnten Insel. Doch auch wenn bei dem von Regisseurin Agnès Merlet („Artemisia - Schule der Sinnlichkeit“) inszenierten Film die Darstellerleistungen stimmen, schafft er es trotzdem nicht, durchweg zu überzeugen. Zu sehr macht sich beim Zuschauer das Gefühl breit, die eingeschlagenen Pfade schon einmal gewandert zu sein.
Psychiaterin Jane Morton (Carice van Houten) flüchtet sich nach dem tragischen Tod ihres Sohnes in ihre Arbeit. Sie übernimmt die Aufgabe, ein Gutachten über den psychischen Zustand der 15-jährigen Dorothy Mills (Jenn Murray) anzufertigen, die versucht hat, ein ihr anvertrautes Baby zu erwürgen. Jane macht sich auf den Weg in das kleine, auf einer Insel gelegene Dorf Dorothys und wird dabei in einen Unfall mit drei Jugendlichen verwickelt, den sie wie durch ein Wunder unbeschadet übersteht. In der ersten Sitzung gibt die extrem eingeschüchterte Dorothy an, sich nicht an den Vorfall zu erinnern und das Baby niemals willentlich in Gefahr gebracht zu haben. Als das Mädchen plötzlich mit anderer Stimme und veränderten Wesenseigenschaften spricht, ist sich Jane sicher, dass Dorothy unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet. Jedoch stellt sich die Psychiaterin schon bald die Frage, ob Dorothys Befindlichkeit nicht über ihre Diagnose hinaus vielleicht auch noch eine überirdische Ursache haben…
Schon die ersten Minuten machen dem Betrachter deutlich, dass die Story von „Dorothy Mills“ einen doppelten Boden haben muss. So wirkt etwa das Gespräch zwischen Jane und ihrem Chef keinesfalls wie eine geschäftliche Unterredung unter Kollegen. Außerdem scheint es unmöglich, dass die Psychiaterin den brisanten Autounfall ohne jede Schramme überstanden hat. Schließlich ist es auch nur schwer vorstellbar, dass die Mitglieder der eingeschworenen Inselgemeinde von den drei rebellischen Jugendlichen, denen Jane immer wieder begegnet, überhaupt nichts wissen.
Vordergründig wird, besonders zu Beginn, das bekannte Szenario der herausgeputzten Städterin, die in der streng gläubigen Dorfgemeinde auf wenig Verständnis für ihre Kleidung und ihr emanzipiertes Verhalten stößt und als lästiger Störenfried im ländlichen Idyll angesehen wird, durchexerziert. Natürlich spielt auch die abergläubische Gemeinde und ihr Oberhaupt eine gewichtige Rolle. Die merkwürdigen, sich plötzlich ändernden Persönlichkeitsmerkmale der scheuen Dorothy erinnern hingegen sofort an die diversen Teile der Der Exorzist-Reihe. Doch in Dorothy wohnt nicht nur eine, sondern gleich mehrere Persönlichkeiten. Und von längst nicht allen geht Gefahr aus. So nimmt Dorothy unter anderem auch das Wesen eines dreijährigen Mädchens namens Mimi an, welches der Psychiaterin verrät, dass Dorothy verdrängt werden müsse, da sie sich ansonsten, wenn sie ihren Körper für längere Zeit selbst kontrollieren würde, etwas antun könnte. Das Phänomen der multiplen Persönlichkeit wird hier mit einer Hand voll Personen unterschiedlichen Geschlechts und Alters, die in Dorothy schlummern und auch mit individueller Kleidung und Perücken daherkommen, auf die Spitze getrieben. Bisweilen rücken diese extremen Ausmaße die Persönlichkeitsspaltung allerdings auch in die Nähe der Lächerlichkeit.
Das, was sich auf der Leinwand abspielt, ist zwar alles andere als innovativ, trotzdem mangelt es nicht an einer gewissen Spannung. Vor allem ist der Zuschauer gespannt, wie sich die von Beginn an hervorstechenden Fäden, die zum altbekannten Teppichmuster nicht passen wollen, gen Ende entwirren lassen. Das gebotene Finale ruft dann zwar nicht gerade Begeisterungsstürme hervor, rundet den Film aber gelungen ab und liefert eine zufriedenstellende Auflösung.
In ihrem ersten Kinofilm überzeugt Jenn Murray als Dorothy. Ihr bietet diese Rolle die Möglichkeit, sich darstellerisch ordentlich auszutoben. Sie verkörpert die unterschiedlichen Charakterzüge und Wesenseigenheiten der Personen, die aus Dorothy herausbrechen, mit großer Spielfreude und offenbart großes Talent. Auch Carice van Houtens (Black Book, Der Mann, der niemals lebte, Operation Walküre) Darstellung der nur auf Ablehnung stoßenden Psychiaterin Jane ist gelungen. Trotzdem hängen über den landschaftlich ansprechenden grünen Hügeln des irischen Eilandes einige Regenwolken: Einerseits weiß die mit all den in ihr wohnenden Seelen überfrachtete Figur der Dorothy – trotz der beeindruckenden Leistung von Jenn Murray - nicht gänzlich zu überzeugen und wirkt teilweise übertrieben und lächerlich. Andererseits kommen einem die Geschehnisse auf der Insel irgendwie bekannt vor und dieses Gefühl von Déjà-Vu wird durch einige unnötige Klischees auch noch weiter verstärkt.
Fazit: Die solide inszenierte, sich größtenteils in bekannten Bahnen bewegende Story und die etwas übers Ziel hinausschießende Schilderung der Persönlichkeitsspaltung machen „Dorothy Mills“ zu einem unterhaltsamen Thriller, der aber ähnlich schnell wieder vergessen ist, wie die in Dorothy wohnenden Persönlichkeiten ihre Machtposition wechseln.