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    Prater
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Prater
    Von Sascha Westphal

    Als das Kino noch Kinematograph hieß und tatsächlich eine Jahrmarktsattraktion war, ging von den bewegten Bildern eine Wirkung aus, von der Produzenten und Filmemacher heute nur noch träumen können. Nicht einmal all die technischen Gimmicks, die mit den Jahren den Film erobert und sich zumindest zum Teil auch Untertan gemacht haben, können die Zeit zurückdrehen. Diese ersten Jahre, in denen jeder Film eine Sensation war und Bilder von der Ankunft eines Zuges die Menschen in Scharen aus den Zelten fliehen ließen, sind unwiederbringlich verloren. Daran können auch die neuesten CGI- und 3-D-Effekte nichts ändern. Was bleibt, sind die Legenden aus dieser Zeit der Unschuld und das Wissen, das diese Kunst des 20. Jahrhunderts einmal die menschliche Wahrnehmung radikal verändert hat. Und selbst heute besitzt sie noch eine ganz eigene magische Kraft, die allerdings nichts mit Spezialeffekten zu tun. Der Zauber des Kinos liegt in seiner Macht weit auseinander liegende Zeiten und Realitäten zu einer neuen Wirklichkeit zu vereinen. Und genau dieser Zauber wirkt in Ulrike Ottinger essayistischer Dokumentation „Prater“. Mit einfachen, aber keineswegs simplen oder gar banalen Mitteln gelingt der exzentrischen Filmemacherin das, woran selbst die teuersten, mit größtem Aufwand produzierten Blockbuster scheitern: Sie gibt dem Kino etwas von dieser einzigartigen Unmittelbarkeit zurück, die es vor gut hundert Jahren zu einer wahren Sensation auf jedem Jahrmarkt gemacht hat.

    In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts haben die ersten Schausteller begonnen ihre Buden und Häuser auf dem Pratergelände in Wien zu eröffnen. Damals waren Teile des Parks noch ein kaiserliches Jagdrevier, zu dem nur die Adeligen und die Jagdtreiber Zutritt hatten. Selbst heute nimmt der Vergnügungspark, der sogenannte „Wurstelprater“, nur einen kleinen Teil dieses riesigen Areals ein. Aber er ist es, der den Prater mit dem Riesenrad und all den anderen Attraktionen weltberühmt gemacht hat. Ulrike Ottinger lässt nun die Geschichte dieses ältesten Lunaparks der Welt Revue passieren. Dabei kommen etwa die Nachkommen des aus Russland stammenden „Mannes ohne Unterleib“ zu Wort, der in Wien um 1900 herum zusammen mit seiner Frau mehrere Vergnügungsstätten gründete, die zum Teil heute noch existieren. Außerdem erzählen der Nachfahre der Betreiber des ersten Wiener Kinos, das 1905 seine Tore im Prater öffnete, und der Inhaber des „Schweizerhauses“, eines edlen Gastronomiebetriebs, aus ihren Familiengeschichten. Diese mündlichen Überlieferungen werden ergänzt durch alte Photos, Postkarten und Filmaufnahmen. So kann man ganz direkt miterleben, wie sich der Park im Lauf eines Jahrhunderts verändert hat. Und natürlich offenbart sich der Wandel der Zeiten am deutlichsten bei den mechanischen und technischen Attraktionen, die immer auf dem neuesten Stand waren.

    Die Welt zu Gast in Wien. Im späten 19. Jahrhundert gab es mehrere Monate lang ein afrikanisches Dorf im Prater. Dort lebten die Aschanti und gingen ihren ganz alltäglichen Verrichtungen, ihren Arbeiten wie ihren Vergnügungen, nach, während die Besucher des Parks zwischen ihren Hütten flanierten und die Fremden bestaunten. Später sollten noch andere Stämme und Völker folgen. Diese zwischen anthropologischer Studie und kolonialer Herablassung changierenden lebenden Ausstellungen gehörten in der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg neben simulierten Reisen an fremde Orte zu den größten Attraktionen des Praters. Die Arbeiter und die Kleinbürger, die Soldaten und vor allem natürlich die Kinder der K.u.K-Metropole genossen die Fluchten in andere Welten und verschickten Postkarten, als seien sie tatsächlich in Venedig gewesen oder hätten das Erdbeben von Messina miterlebt.

    Diesen illusionistischen Charakter, den die Ausflüge in den Vergnügungspark damals hatten, beschwört Ulrike Ottinger nicht nur in den von Peter Fitz gesprochen off-Texten, die unter anderem von Josef von Sternberg und Elias Canetti stammen, noch einmal herauf. Sie kreiert ihn sogar nach. Wie die Menschen im Prater einst auf Weltreise gehen konnten, so begibt sich das Publikum dieses magisch-verspielten Filmessays auf eine imaginierte Reise durch die Zeit. Immer wieder bricht Ulrike Ottinger den Fluss ihrer eigenen Bilder– sie war auch bei diesem Film ihre eigene Kamerafrau – durch eingeschobene Archivaufnahmen auf. Gegenwart und Vergangenheit werden eins, wenn sie von einer der heutigen Attraktionen auf das Publikum der Vor- und Zwischenkriegszeit schneidet. Die Menschen auf den alten Postkarten sind dabei nicht weniger real als die, die sich 80 oder 90 Jahre später in die Geisterbahn setzen oder mit dem „Ejection Seat“, der wohl modernsten Attraktion des Parks, in den Himmel schießen lassen. Der Wandel, den der Park im Lauf der letzten 115 Jahre durchgemacht hat, ist enorm, aber die Kontinuität der menschlichen Illusionen, Sehnsüchte und Träume ist immer noch ungebrochen. Und die Reise in die Vergangenheit, auf die uns Ulrike Ottinger hier schickt, ist zugleich auch ein Trip auf den Grund unseres Unbewussten.

    Oben ist unten, und unten ist oben. Das gilt für die karnevalske Welt des Praters im gleichen Maße wie für die anarchischen, von Ideen und Skurrilitäten überbordenden Filme Ulrike Ottingers. Natürlich haben sich immer auch die Adeligen und die Reichen im Wurstel-Prater vergnügt. Wie die anderen haben auch sie sich an den Schießständen und -Buden versucht, aber letzten Endes mussten sie dort immer Fremde, Außenseiter, bleiben. Sie, die im kaiserlichen Gehege auf die Jagd gehen und Hirsche und Hasen schießen konnten, waren im Prater fehl am Platz. Denn dort durften sich all die als Herren und Jäger fühlen, die im wirklichen Leben von so etwas nicht einmal träumen konnten. Dieser Vergnügungspark war immer schon – und ist auch heute noch – ein Reich der absoluten Freiheit. Und genau diese Freiheit, die es über Jahrzehnte hinweg sogenannten Freaks ermöglicht hat, nicht nur sie selbst, sondern auch erfolgreich zu sein, feiert Ulrike Ottinger mit ihren wundervollen Kamerafahrten, mit ihren subjektiven Perspektiven und ihren ungewöhnlichen Bildkadern, die selbst mechanischen Figuren ein eigenes Leben einhauchen. Natürlich ist der Wurstel-Prater ein künstlich geschaffenes Paradies, aber ein Paradies bleibt er trotz allem.

    Ein besonderer Coup ist Ulrike Ottinger damit geglückt, dass sie die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek für ihren Film gewonnen hat. Sie tritt nicht nur als weiße Frau auf, die in einer Photo-Kulisse von King Kong entführt wird. Sie hat auch einen großartigen, schillernd-hintersinnigen Text für „Prater“ geschrieben, der das Thema der Freiheit, der möglichen Umkehrung der bestehenden, sich von Generation zu Generation perpetuierenden Herrschaftsverhältnisse, noch einmal autobiographisch aufgreift:

    „Der Prater allerdings ist mir, als ich Kind war, von meiner Mutter weggenommen worden, weil mein Wille, diese Vergnügungsmaschinen mit meinem kleinen Körper zu bändigen, ein Wille war, der auf etwas anderes gerichtet war und letztlich der Zähmung, der Dressur durch die Mutter mit einem Atom Willenskraft Widerstand geleistet hätte. Aber das Ziel war ja: Ich sollte gemeistert werden. Ich sollte nicht Maschinen mit mir bestücken und damit eine Art Herrschaft über sie erlangen. Da hätte ich ja etwas über Herrschaft lernen können, und das war nicht erlaubt. Der einem fremden Willen Unterworfene treibt, wie Stückgut, Papierln, Äste, am Wesen des Lebens vorbei. Der Prater hätte nichts als ein Kescher sein können, der einen hätte herausholen können.“ (Elfriede Jelinek)

    Ulrike Ottingers Reise durch die Geschichte es Praters ist ein solcher Kescher. Sie holt den Betrachter aus seiner Wirklichkeit heraus und führt ihn in eine alternative Welt. In ihr sind alle bestehenden Gesetze von Raum und Zeit, Gesellschaft und Macht außer Kraft gesetzt. Aber das ist noch längst nicht alles. Blickt man zudem noch aus dieser herrschaftsfreien Welt zurück in unsere alltägliche Wirklichkeit erkennt man die Mechanismen, die Elfriede Jelinek beschreibt, mit ungeahnter Klarheit. Wer mit den Augen des Praters sieht, wird die Welt anders wahrnehmen.

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