Porträt einer Gestörten? Verfilmter Teenietraum? Polizeikrimi über eine Vermisstensuche oder doch eher Familiendrama? Was genau ist dieser Film? Selbst Regiedebütantin Simone North schien es nicht genau zu wissen und so wurde „I Am You" zu einer etwas holprigen Mischung aus Realität und Fantasie, aus verschiedenen Genres und Perspektiven. Gegen diese Herangehensweise an den Kriminalfall der 15-jährigen Rachel Barber, der sich 1999 tatsächlich im australischen Melbourne zugetragen hat, ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn der Drahtseilakt denn gelingen würde. Zwar versteht es North, den Zuschauer emotional zu binden - unklar bleibt aber bis zum Schluss etwa, was sie mit ihrer immer wieder eingesetzten schwebenden Traumkamera einfangen wollte. Und die ständigen Gefühlsausbrüche wirken, obwohl sie gut gespielt sind, irgendwann nur noch affektiert, manipulativ und kalkuliert. Letztlich ist „I Am You" ein unausgegorenes Werk mit intensiven Momenten und einer hervorragenden Hauptdarstellerin.
Rachel Barber (Kate Bell) ist ein Mädchen, über dem die Sonne scheint. Sie hat einen tollen Freund und wächst in einer liebevollen Familie auf, die ihre Ballettleidenschaft von ganzem Herzen unterstützt. So gut hat es freilich nicht jede(r). Im Haus gegenüber wohnt die psychisch gestörte Caroline (Ruth Bradley). Die gelegentliche Babysitterin der Barbers ist zerfressen von Selbsthass. In der Schule wird sie permanent gehänselt, doch die fiesesten Beleidigungen für sich findet sie immer noch selbst. Ihr ist klar, dass sie nie ein Leben führen wird wie Rachel. Aus Neid und Frustration über ihr Dasein erwächst ein absolut irrationaler, schauriger Plan. Caroline möchte zu Rachel werden, indem sie sie tötet und „in ihre Haut schlüpft".
„I Am You" beginnt mit malerischen Bildern: Die Kamera schwebt über ein idyllisches Waldgelände. Rachel tanzt engelsgleich mit ihrem Freund Manni (Khan Chittenden) und gleich darauf schmusen die Liebenden in der gleißenden Sonne. Bilder aus der Realität, mit Weichzeichner in einen traumgleichen Idealzustand verrückt. So sieht Rachels Welt in Carolines Augen aus: perfekt! Ein vielversprechender Anfang, dem leider nicht mehr viel folgt, denn der ganze Film besteht aus Momentaufnahmen, in denen Regisseurin North Stimmungen wie Licht durch ein Lupenglas bündelt. Das Leid einer Familie, die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, die Psyche eines gestörten Menschen – all das kommt mehr oder weniger deutlich vor, und trotzdem vermisst man etwas. Was fehlt ist eine Aussage, eine Lehre, eine Deutung der Geschehnisse.
Die Regisseurin wechselt zwischen gleich vier Erzählperspektiven (Eltern, Rachel, Caroline, Polizei) und bleibt diesen immerhin treu, innerhalb der einzelnen Sequenzen nimmt sie jedoch ohne ersichtlichen Grund Zeitsprünge vor. Durch diese Aufteilung ist die Konzentration des Zuschauers immer auf das Schicksal einer konkreten Figur gerichtet. Diese Rechnung geht aber nur für Caroline auf. Kate Bells Rachel schafft es nicht über das Skizzenstadium eines pubertierenden Teenies hinaus. Miranda Otto („Der Herr der Ringe - Die zwei Türme") und Guy Pearce („Memento") spielen die besorgten Eltern zwar sehr intensiv, ihre verzweifelten Tobsuchtsanfälle wirken in der Kürze aber so, als seien sie nur zur Befriedigung der Sensationslust da. Was die Regenbogenpresse nur allzu gern vor die Linse bekäme, hat North frei aus dem Ärmel schütteln können. Zu allem Überfluss erfahren wir, wenn es um die Polizeiermittlungen geht, nur Dinge, die wir längst wissen.
Es gibt aber auch Gutes an „I Am You": zum Beispiel, dass niemand verurteilt wird. Gerade von der Täterin erhalten wir ein umfangreiches Bild. Caroline wird als ein Opfer der Umstände, wenn auch nicht gleich als unzurechnungsfähig dargestellt. Es wird klar gezeigt, wie sehr das soziale Umfeld versagt hat und dass ein solch tragisches Ereignis so erst möglich wird. Höhepunkt des Films ist Ruth Bradleys emotional extreme Darstellung, ohne dass Caroline dadurch zur Sympathiefigur des Films oder ihre Tat nachvollziehbar wird. Ihr Verhalten ist im Film so schockierend und unbegreiflich wie in der Realität. Vielleicht kann ein Film dieser Tragödie keine tieferen Erkenntnisse abgewinnen, weil es keine gibt: Die Ermordung war der sinnlose Akt einer tragischen Gestalt.
Fazit: Simone North multipliziert in ihrem stilistisch überhöhten Tatsachendrama über einen tragischen Kriminalfall die Ansätze und Einfälle, aber nur in der Darstellung der Täterin durch Ruth Bradley gewinnt der Film echte Substanz.