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    Big Bang Love, Juvenile A
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Big Bang Love, Juvenile A
    Von Björn Becher

    In den letzten Jahren zeigt das japanische Regie-Enfant-Terrible Takashi Miike immer öfter zwei Gesichter. Fast im Wechsel präsentiert er schwer zugängliche Werke und sich stärker am Mainstream orientierende Filme. Auf den lynchesken „Gozu“ folgte (fast) nach bewährtem Asia-Horror-Muster The Call sowie die Superhelden-Parodie Zebraman. Danach kam mit „Izo“ der bis dato am schwersten zugängliche Miike, den selbst zahlreiche harte Fans aufgrund der philosophischen Monologe und der kaum erkennbaren Story verdammten. In die völlige andere Richtung ging dann wieder The Great Yokai War, dem bisher größten Publikumserfolg des Regisseurs in seiner japanischen Heimat. „Juvenile, A Big Bang Love“ ist nun wieder auf der Kunstseite anzusiedeln und dort ganz am Rande denn der bisher artifiziellste Film ist noch sperriger als „Izo“, aber trotzdem von einer solch beeindruckenden Kraft, dass man das experimentelle Drama ohne Zweifel von nun an in die Liste der besten Werke des Vielfilmers aufnehmen muss.

    Nach zwei zu Beginn noch völlig unverständlichen Szenen (Kenichi Endo rezitiert aus einem Manuskript; ein tätowierter Mann liefert eine virtuose Tanzperformance in einem weißen Raum) wirft Takashi Miike den Zuschauer mitten in das Geschehen. Handlungsort: ein Gefängnis. Der schmächtige Jun (Ryuhei Matsuda) sitzt auf dem toten Körper von Shiro (Masanobu Ando mit einer wirklich beeindruckenden Leistung), den der Zuschauer schnell als den Tanzvirtuosen identifiziert. Die Hände von Jun sind um den Hals von Shiro gedrückt, er habe es getan, gesteht er laut einen Mord. Doch was ist die Vorgeschichte dieser Tat? Warum hätte der schüchterne Jun, der im Gefängnis unter dem Schutz des aggressiven Shiro stand und der als einziger kein Motiv haben dürfte, diesen umbringen sollen?

    Man könnte „Juvenile, A Big Bang Love“, der im Original eigentlich „46-okunen no koi“ (wörtlich übersetzt: „Die Liebe der 460 Millionen Jahre“) heißt, in viele Kategorien einordnen. Gefängnisfilm, Whodunit, Liebesdrama, Theaterstück, Science-Fiction, Experimentalfilm… Keine Bezeichnung würde dem Film nur ansatzweise gerecht. Das zeigt schon, wie schwer er zu fassen ist, was nicht nur in der kargen Ausstattung, sondern vor allem auch im Erzählstil begründet ist.

    Narrative Strukturen sind da, um sie aufzubrechen und das wird hier andauernd gemacht. Realität und Traum vermischen sich so, dass sie kaum mehr unterschieden werden können. Eine Chronologie scheint es lange nicht zu geben, so wild wird zwischen den Zeiten gesprungen. Der Handlungsort ist ein Gefängnis, das im Nirgendwo zu sein scheint. In keiner Zeit und an keinem Ort dieser Welt. Vor dem Gefängnis stehen eine Weltraumrakete und eine Maya-Pyramide. Ihre Bedeutung? Die Rakete kann einen in den Weltraum bringen, die Pyramide reicht bis hoch in den Himmel. Jun und Shiro stehen davor und diskutieren, was der bessere Ausweg wäre: Der Weltraum oder der Himmel? Das Gefängnis selbst besteht in der Draufansicht aus Kreidezeichnungen auf dem Boden, ähnlich wie die Bühne in Lars von Triers Dogville. Erst das Zelleninnere zeigt Türen. Sowieso scheint alles auf einer Theaterbühne zu spielen. Ein richtiges Setting gibt es nur bei Rückblenden in die Vergangenheit der Protagonisten. Miike selbst antwortete auf die Frage, warum er diese Theater-Kulisse gewählt habe, in einem Interview nur lax, dass es verdammt schwer sei, eine Drehgenehmigung für ein Gefängnis zu bekommen.

    Das ungewohnte äußere Bild erweist sich als Causa für die Faszination des Films, dazu kommen die gelungenen philosophischen Dialoge, die aufgrund von Auflockerungen durch Handlungsdialoge deutlich zugänglicher und weniger flach sind, als die Monologe des Protagonisten in „Izo“. Im Vorfeld durften sich in dieser Hinsicht Skepsis und Zuversicht die Waage halten. Die Vorlage stammt von Hisao Maki, einem ehemaligen Kareteka und erfolgreichen Mangaautor. In früheren Jahren haben die beiden öfters zusammen gearbeitet und der große Einfluss den Maki zu diesem Zeitpunkt noch auf den Regisseur hatte (der sich neben schwachen Drehbüchern meist in unnötigen Szenen mit dem auch als Schauspieler tätigen Autor äußerte), war oft schädlich für die Qualität der Filme. So resultiert ein Großteil der schwächsten Werke des Regieexzentrikers aus dieser gemeinsamen Schaffenszeit. Demgegenüber stand aber Masa Nakamura, der vor „Juvenile, A Big Bang Love“ bereits sechs Mal mit Miike gearbeitet hatte, und auch hier das Drehbuch schrieb. Diese gemeinsamen Arbeiten sind Glanzlichter in beider Karrieren. Hier setzte sich wohl Nakamura durch; man hört auch, dass Maki gar nicht so zufrieden mit dem Endergebnis sein soll, da die Vorlage sich wohl nur lose im fertigen Film wieder findet.

    Der Hauptplot, die Whodunit-Geschichte, fungiert nämlich nur als Verbindung zwischen den einzelnen, oft surrealen, immerzu aber perfekt durchkomponierten und erstklassig inszenierten Szenen. Bei ihm sammeln sich die ganzen aufgerissenen Nebenkriegschauplätze im Finale dann auch recht deutlich. Trotzdem steht dieser Teil der Geschichte nie so im Vordergrund, wie man es meinen könnte. Stattdessen werden auch hier wieder die Erwartungen des Zuschauers konterkariert. Die Kamera, und nicht der Kommissar, befragt die Mitinsassen, die ähnlich wie bei einer Straßenumfrage innerhalb einer TV-Reportage in diese ihre Meinung über den vermeintlichen Tathergang äußern. Das Kreuzverhör zwischen dem Kommissar und einem Verdächtigen besteht aus in Textform direkt auf die Leinwand projizierten Fragen und gesprochenen Antworten.

    Letzteres zeigt schon eine Besonderheit des ungewöhnlichen Kunstwerkes. Die Bilder sprechen, nicht der Ton. Die Bilder sind es, welche perfekt durchkomponiert sind. Hier legt Miike noch einmal einen Quantensprung im Vergleich zu früheren Arbeiten hin. Die Tonspur dient nur dazu, die Kraft der Bilder zu unterstützen, was auch die sehr sparsam, aber sehr wirkungsvoll eingesetzte Musik verdeutlicht. Daraus resultiert ein Sog der Faszination, welcher den Zuschauer so in seinen Bann zieht, dass die 85 Minuten schließlich viel zu schnell zu Ende sind, aber glücklicherweise hallt die Wirkung des Films noch lange nach. Denn trotz der punktgenauen Auflösung am Ende, welche die inhaltlichen Fragen des Whodunit-Plots beantwortet, gibt es noch ungemein viel, das einen über den Sehgenuss hinaus beschäftigen kann, ja gerade dazu einlädt. Denn zwischen den Zeilen wirft Miike zahlreiche Fragen zu philosophischen, religiösen und moralischen Themen auf. Nicht nur deswegen ist die sich konsequent den Sehgewohnheiten verweigernde wilde Mischung aus Theater und Filmfeuerwerk schlicht und einfach beeindruckend.

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