Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ gehört zu den wenigen deutschen Romanen neueren Datums, denen ein internationaler Erfolg beschieden war. Das in 40 Sprachen übersetzte Buch von 1995 schaffte es sogar auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times. Dass sich der Stoff mit seinem sehr speziellen Blickwinkel auf den Holocaust zu Geld machen lässt, erkannte Produzent Harvey Weinstein frühzeitig und kaufte bereits 1996 die Filmrechte. Bis ein abgeschlossenes Drehbuch vorlag, vergingen allerdings mehr als zehn Jahre und erst jetzt ist der fertige Film von Regisseur Stephen Daldry weltweit in den Kinos zu sehen. Zuletzt wurde „Der Vorleser“ etwas überraschend für fünf Oscars nominiert. Das lange Warten auf die Adaption hat sich trotzdem nur bedingt gelohnt.
Ende der 1950er Jahre in Neustadt. Als der 15-jährige Michael (David Kross) auf dem Heimweg von der Schule plötzlich von einem Gelbsuchtsanfall überrascht wird, flüchtet er sich in einen Häusereingang, wo ihn eine Unbekannte (Kate Winslet) findet. Die Frau kümmert sich um den Jungen und bringt ihn nach Hause. Als Michael Monate später von der Krankheit genesen ist, bringt er seiner Helferin einen Blumenstrauß vorbei. Dabei stellt er fest, dass Hanna Schmitz, so der Name der Mitdreißigerin, eine fast magische Anziehung auf ihn ausübt. Die beiden beginnen eine Affäre, die einen Sommer lang andauert. Hanna stillt Michaels unersättlichen Liebesdrang und lässt sich im Gegenzug von dem Jungen Geschichten vorlesen – bis sie ihn plötzlich ohne eine Erklärung verlässt. Unter tragischen Umständen sehen sich Michael, mittlerweile Jurastudent, und Hanna Jahre später bei einem Kriegsverbrecher-Prozess wieder.
Bernhard Schlink, seines Zeichens Professor der Rechtswissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, ist mit „Der Vorleser“ ein meisterhafter Roman gelungen und er wurde dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Bei einem solchen Stoff besteht aber immer die Gefahr, dass die Wahl der behandelten Themen als Wert an sich angesehen wird und die kritische Einordnung der künstlerischen Gestaltung ins Hintertreffen gerät. Die Antwort auf die Frage nach der Qualität ist also immer von dem angelegten Maßstab abhängig. Im Falle der Academy, die jährlich mit dem Oscar die wichtigste Trophäe in der Filmwelt vergibt, liegt die Sache recht deutlich. Bei „Der Vorleser“, der sich für viele überraschend einen Platz unter den Anwärtern auf den begehrten Hauptpreis für den „Besten Film“ sichern konnte und damit sogar den überaus populären The Dark Knight hinter sich ließ, wurde nicht das künstlerische Handwerk, sondern das Thema nominiert.
Der nach seinen Oscar-Nominierungen für Billy Elliot und The Hours) auch für „Der Vorleser“ auf der Auswahlliste stehende Stephen Daldry ist ein respektabler Regisseur und die Schauspielerriege kann sich ebenfalls sehen lassen. Nun dürfte aber auch den Machern der Verfilmung klar gewesen sein, dass aus einem guten Buch nicht automatisch ein hervorragender Film wird, wenn man sich nur eng genug an die Vorlage hält. Im Falle von „Der Vorleser“ scheint aber genau dieser Gedanke dem Resultat zugrunde zu liegen. Echte künstlerische Visionen oder auch nur ein eigenständiger Zugang zu der Materie lassen sich nicht aufspüren. Als Versuch in dieser Richtung lässt sich höchstens die Entscheidung von Drehbuchautor David Hare (The Hours) für eine nicht-chronologische Erzählweise verstehen. Der Mehrwert dieses narrativen Konzepts ist allerdings gleich Null. Schlink entfaltet seine Geschichte in drei Zeitebenen nacheinander. Durch die in den Film eingebauten Sprünge in die Erzähl-Gegenwart der 1990er Jahre, in der Ralph Fiennes (Der englische Patient, Brügge sehen... und sterben?, Der ewige Gärtner) mit Leidensmiene durch Berlin wandelt, ist dramaturgisch nichts gewonnen.
Als ein „formal wunderschönes, verstörendes und moralisch erschütterndes Werk“ bezeichnete die Los Angeles Times den Roman. Über den Film lässt sich das leider nicht sagen. Schlink deckt in seinem Roman ein breites inhaltliches Spektrum ab: Er erzählt vom Nachkriegsdeutschland, von der Judenverfolgung und der Realität von Konzentrationslagern, er stellt die Frage nach dem Umgang mit Tätern, Schuld und Vergebung und greift dazu Themen wie erste Liebe, Beziehungen mit großem Altersunterschied und Analphabetismus auf. Alle diese Elemente verknüpft Schlink mit dem Schicksal Michaels, durch dessen Augen der Leser die Geschichte verfolgt. Dem Film hingehen fehlt dieses starke erzählerische Zentrum. Auch wenn die Verfilmung natürlich von den starken Motiven des Buches zehren kann, vermittelt sich das emotionale Schwindelgefühl des Protagonisten nicht. Die Zeitsprünge machen es schwer, sich in die Geschichte einzufinden und am Geschick der Hauptperson teilzuhaben. David Kross (Knallhart, Krabat) gelingt es letztlich nicht, den Zuschauer an seine Figur zu binden und die enormen Gewissenskonflikte des 15- und später 23-jährigen Michael Berg fühlbar zu machen. Die moralische Erschütterung überkommt den Zuschauer vielleicht, wenn er sich die Zeit nimmt, über das Gesehene nachzudenken, die unmittelbare Verstörung beim Betrachten allerdings bleibt aus.
Zu den wenigen echten Stärken des Films zählt das Schauspiel von Kate Winslet (Zeiten des Aufruhrs, Titanic, Little Children), die für die Rolle ebenfalls für den Oscar nominiert worden ist. Es ist immer wieder erstaunlich, wie wandlungsfähig die britische Golden-Globe-Preisträgerin doch ist. Ihre Darstellung der widersprüchlichen Hanna Schmitz, die Verwundbarkeit, Aggression, ein unterentwickeltes moralisches Empfinden und erotische Anziehungskraft gleichermaßen zum Ausdruck bringt, überzeugt - zumindest soweit es die Dialoge des auf Englisch zu großen Teilen in Babelsberg gedrehten Films zulassen. Die den Gesetzen der Co-Produktion geschuldete starke deutsche Beteiligung bei der Besetzung durch Hannah Herzsprung (1. Mai, Vier Minuten), Bruno Ganz (Der Baader Meinhof Komplex, Der Untergang), Karoline Herfurth (Im Winter ein Jahr, Das Parfum) und viele mehr bringt ein babylonisches Gewirr von Dialekten und Akzenten mit sich. Winslets seltsamer Fake-Dialekt, der wohl die rumänische Herkunft von Hanna Schmitz illustrieren soll, reibt sich an dem perfekten Englisch von Ralph Fiennes und den unterschiedlich ausgeprägten fremdsprachlichen Fähigkeiten der deutschen Schauspieler und zerstört leider den vom Film angestrebten Realismus. In der deutschen Version dürfte dieses Problem allerdings behoben sein.
Haben sich die Erwartungen an „Der Vorleser“ erfüllt? Sicher nicht im erhofften Maße. Auch wenn das Ergebnis insgesamt passabel ausfällt, führt der Film inhaltlich doch an keiner Stelle über die Vorlage hinaus. Es werden weder eigene Schwerpunkte gesetzt noch besitzt auch nur eines der vielen, zumeist nur angedeuteten Themen besondere Prägnanz. Auch Stab und Besetzung können nicht mit herausragenden Leistungen glänzen. Die Produktionswerte, die Regie, das Drehbuch, die Leistungen der Darsteller – all das bewegt sich zwischen akzeptablem und gutem Niveau. Aber das reicht eben nicht. Das moralische Taumeln, in welches das Buch den Leser versetzt, ruft der Film leider nicht hervor.
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