„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus)
Mit diesem Zitat des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein lässt sich das Schaffen des Kölner Dichters Rolf Dieter Brinkmanns zusammenfassen, dessen überlieferte Tondokumente als Schablone für Harald Bergmanns Film „Brinkmanns Zorn“ dienen. Bergmann, der Philosophie und Literaturwissenschaft studiert hat, ist seit 1990 als Regisseur tätig. In seinen Filmen sucht er eine Symbiose aus den Bereichen Literatur, Philosophie und Film zu schaffen. Paradigmatisch dafür steht seine Trilogie über Leben und Werk des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin. In den drei abendfüllenden Filmen „Das untergehende Vaterland“, „Hölderlin Comics“ und „Scardanelli“ widmet er sich dem Spätwerk des hölderlinschen Oeuvres. Dabei ist das anvisierte künstlerische Ziel eine angemessene filmische Form für Hölderlins Wortkunst zu finden. Diese erscheint dann als Amalgam aus originalgetreuen Zitaten und den dazugehörigen Filmbildern, die zwischen Dokumentation und Fiktion changieren. Ein ähnliches Procedere kommt nun auch in Bergmanns neuestem Werk „Brinkmanns Zorn“ zur Anwendung. Von Vorteil ist hierbei, dass sowohl Tonbandaufzeichnungen wie auch Super-8-Aufnahmen des Dichters erhalten sind. Erstere wurden 2005 als Audio-CD veröffentlicht und zum Hörbuch des Jahres für Erwachsene gekürt.
Die Handlung liegt nun, gemäß der Vorlage, fernab des klassischen Erzählkinos. Wir Zuschauer begleiten also Brinkmann in alltäglichen, familiären Situationen und weniger alltäglichen Situationen, wenn er zum Beispiel, bewaffnet mit seinem Tonbandgerät, durch die Kölner Innenstadt streift. Die Message, die Brinkmann gebetsmühlenartig wiederholt, ist ein großes „Nein“ fast allem gegenüber. Auf seinen Spaziergängen übt er eine Art Dekonstruktion des kleinbürgerlichen Städterdaseins, und legt es als banale, monotone und trostlose Daseinsform offen. In seinen Angriffen macht Brinkmann vor nichts halt. Die Institution der Familie – der Inbegriff bürgerlichen Lebens schlechthin –, wie bereits Eingangs angedeutet, die Sprache, die Literatur oder die Erziehung sind weitere Ziele seiner Angriffe. Seinem sprachbehindertem Jungen versucht er oft erfolglos Lautfolgen zu entlocken, die konventionell den Dingen in der Welt zugeordnet sind. Dieser ist jedoch nur dazu in der Lage, mühsam einzelne Brocken der Worte zu reproduzieren. Jedoch ist die Kommunikation mit anderen „normalen“ Sprachteilnehmern ebenfalls gestört. Die Gespräche, die Brinkmann mit seiner Frau oder mit Freunden interviewartig führt, münden in Missverständnisse oder scheinen planmäßig aneinander vorbei geführt zu sein. Den wortgewaltigen Attacken folgen zuweilen nicht weniger gewalttätige Ausbrüche Brinkmanns, der auf blechernen Mülltonnen in einem Hinterhof, sehr zum Argwohn der Anwohner, ein Trommelkonzert zum Besten gibt, oder Küchengeräte mit ähnlicher Intention zweckentfremdet, um eine Symphonie der Sinnlosigkeit darzubieten. Was letztendlich zu bleiben scheint, und letzten Endes sogar latent positiv gewertet wird, ist das aktive Erleben, Gefühl, Rausch und Ekstase.
Die Einordnung von „Brinkmanns Zorn“ in eins der gängigen Genres ist ein durchaus schwieriges Unterfangen. Harald Bergmann montiert, wie schon erwähnt, Originaldokumente in Bild- und Tonform mit aktuellen Aufnahmen. Es ist Literaturverfilmung, Illustration und Interpretation derselben zugleich. Halbdokumentarisch, halbinszeniert und halbexperimentell. Trotzdem gelingt es Bergmann, ein einheitliches, organisches Ganzes zu schaffen. Stilistisch ist der Film in der Tradition des Dogma-Kinos zu verorten: Amateurhaft wirkende, verwackelte Bilder, die mit dem analogen Rauschen der alten Bänder untermalt werden und die sehr spärlich eingesetzten filmischen Verfremdungsmittel, wie monochrom eingetönte Bilder oder verwischte Zeitlupen, vermitteln einen authentischen, wirklichkeitsnahen Eindruck. Brinkmann wird durch Eckhard Rohde gekonnt verkörpert, wobei dieser die offensichtliche Schwierigkeit der Synchronisation der eigenen Lippenbewegung, Gestik und Mimik zu den dazugehörigen Tonaufnahmen vortrefflich meistert.
Der Gestus, mit dem „Brinkmanns Zorn“ auftritt, ist sehr schnell erschöpft. Der Held des Films will uns Glauben machen, dass nicht nur das Leben trist, die Sprache unfähig etwas auszudrücken, sondern auch jegliches kulturelle Agieren vollkommen ohne Wert ist. Allerdings wird schnell klar, dass Brinkmann selbst nichts anderes tut, als mit seinem Werk an im kulturellen Kontext zu partizipieren. Brinkmanns Zorn muss also auch, wenn nicht gar in erster Linie, gegen ihn selbst gerichtet sein. Die einzige logische Konsequenz, die Brinkmann aus seiner Erkenntnis hätte ziehen müssen, wäre das Ausscheiden aus der Kunst, das Aussteigen aus der Kultur, um das reine Leben im Hier und Jetzt zu erfahren. Damit aber kann das Werk von Rolf Dieter Brinkmann der Sprachkritik des frühen 20. Jahrhunderts nicht viel mehr hinzufügen. Bereits Hugo von Hofmannsthal sah den reizvolleren Versuch darin, „sich der Sprache auf magische Weise zu entwinden“ als darin, reine Kritik zu betreiben. Was beide verbindet, ist der Wunsch einer Einheit von Kunst/Sprache und Leben, oder nach einem Leben ohne Kunst/Sprache. Was sie unterscheidet, ist die Form: Während Hofmannsthal bewusst die hohe Sprache wählt, bedient sich Brinkmann der niedrigsten – vor allem der Beschimpfung und des Klagens. Dies fordert vom Zuschauer bei einer Laufzeit von mehr als eineinhalb Stunden bisweilen ein stabiles Nervenkostüm.
Für Kenner und Liebhaber des Brinkmannschen Werke ist Bergmanns filmische Version nur zu empfehlen, da eine sehr enge Verbindung zwischen beiden besteht. Kinobesucher mit klassischem Anspruch an Filme ist „Brinkmanns Zorn“ jedoch weniger ans Herz zu legen.