Der Autorenfilmer Jacques Doillon („Die Rache einer Frau", „Der kleine Gangster") ist ein Außenseiter des französischen Kinos. 1974 gab er mit „Die Finger im Kopf" sein Spielfilmdebüt, bis heute folgten rund 30 Filme, die zwar auf den großen Festivals in Cannes, Venedig und Berlin liefen, aber dort meist mehr oder minder leer ausgingen. „Just Anybody", der 2008 im Forum der Berlinale lief und nun in den deutschen Kinos startet, stellt hier keine Ausnahme dar. Auch sonst passt der Film in das bisherige Werk Doillons: Erneut setzt der Regisseur auf junge und unerfahrene, treffsicher besetzte Darsteller, mit deren Hilfe er ein präzise komponiertes, aber keineswegs unterkühltes Drama erzählt. Er zeigt zudem ein weiteres Mal sein Gespür für die Verbindung ganz unterschiedlicher Genres, zwischen denen er souverän wechselt ohne jemals den erzählerischen Faden zu verlieren.
Camille (Clémentine Beaugrand), eine junge Frau aus Paris, folgt dem Taugenichts Costa (Gérald Thomassin) in seine kleine Heimatstadt an der französischen Küste, denn sie hat sich fest vorgenommen, ihre Liebe an den Erstbesten zu verschenken (daher der Originaltitel: „Le premier venu"). Also entscheidet sie sich trotz ernster Bedenken aus seinem Umfeld für den Mann, der sie in Paris vergewaltigt hat und der für seine kleine Tochter keinen Unterhalt zahlt. Ein alter Jugendfreund Costas, der Polizist Cyril (Guillaume Saurrel), ist von Camilles Unbedingtheit so fasziniert, dass er seinerseits die Verfolgung der jungen Frau aufnimmt.
Von Beginn an ist Camille die treibende Kraft der Erzählung, aber die Beweggründe für ihre Handlungsweise bleiben bis zum Schluss im Unklaren: Wieso will sie ausgerechnet einem Mann ihre Liebe schenken, der sie vergewaltigt hat? Oder hat Costa, wie er selbst sagt, Camille gar nicht vergewaltigt, sondern nur das getan, was sie wollte? Der Film zeigt die fragliche Nacht nicht und bereits hier zwingt Jacques Doillon den Zuschauer zur genauen Beobachtung, indem er von der ersten Minute an Fragen aufwirft statt Gewissheiten zu präsentieren. Der Betrachter wird ständig dazu herausgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden und dem Geschehen ganz individuell Sinn zu verleihen. Denn auch ganz abgesehen von der Vergewaltigung passen Camille und Costa kaum zusammen: Sie ist eine attraktive Frau aus Paris, mit großen braunen Augen, weißer Haut und vollen roten Lippen – er ein kleiner, linkischer Mann aus der Provinz, mit zwei Narben und einem lächerlichen Ohrring. Ob der Zuschauer die Faszination Cyrils, der zumindest anfänglich das Publikum repräsentiert, für diesen „Fall" teilt oder nicht, ist ganz entscheidend für die weitere Rezeption des Films – Jacques Doillon macht jedenfalls alles richtig, um das detektivische Interesse des Publikums zu wecken.
Damit Doillons offene Erzählweise beim Publikum verfängt, ist er auf seine Schauspieler angewiesen, der Filmemacher legt daher stets großen Wert auf ein passendes Ensemble. Für „Just Anybody" verpflichtete er erneut eine hervorragende Besetzung aus unbekannten Darstellern, die bis in die überschaubaren Nebenrollen wahre Glücksgriffe sind - etwa die Kinodebütanten Jany Garachana als Costas Vater, Gwendoline Godquin als dessen Ex-Freundin und Noémie Herbet. Auch für Hauptdarstellerin Clémentine Beaugrand ist es die erste Kinorolle, ihre Leistung als Camille ist besonders beeindruck. An ihrer Seite glänzen die erfahreneren, aber dennoch wenig bekannten Gérald Thomassin und Guillaume Saurrel, die beide schon vorher mit Doillon zusammengearbeitet haben.
„Just Anybody" ist ein Schauspielerfilm, dementsprechend konzentriert sich Doillon mit seiner zurückhaltenden und extrem subtilen Inszenierung auf die Figuren sowie deren soziale Interaktionen: Kleine Gesten, fast unmerkliche Blickwechsel – die präzise gezeichneten Beziehungen der einzelnen Charaktere untereinander bilden das erzählerische Herzstück von „Just Anybody". Die Qualität der genauen Beobachtung zeigt sich besonders deutlich, wenn eine Figur die andere verfolgt oder wenn die Protagonisten in kreisenden Bewegungen umeinander schleichen und sich Fragen stellen. Jacques Doillon zeigt das in ruhigen, klaren Bildern (immer wieder: das Meer, der Strand, das Hotel), ohne Musik (nur bei den Zwischentiteln, die die vier Tage der Erzählung voneinander trennen, erklingt ein wenig Klaviermusik von Debussy) und unter Wahrung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Dabei geht er hochkonzentriert und bedacht vor: Jede einzelne Sequenz ist für die weitere Entwicklung wichtig. Selbst als „Just Anybody" zwischenzeitlich zum Kriminalfilm avanciert und Camille sich noch deutlicher zu einer eigentümlichen Femme-fatale-Variation entwickelt, behält Doillon seinen ruhigen Erzählgestus und den Fokus auf die Figuren unbeirrt bei.
„Just Anybody" ist ein Musterexemplar von einem erwachsenen Ensemble-Drama: Die Figuren sind nicht nur glänzend gespielt und geschrieben (das Drehbuch stammt ebenfalls von Jacques Doillon), sondern von altmeisterlicher Hand gebührend in Szene gesetzt. So erhält der Film nicht nur eine ungeheure unmittelbare Wirkungskraft, sondern seine Charaktere und vor allem die ungewöhnliche Protagonistin Camille gehen einem tagelang nicht mehr aus dem Kopf.