„Siboney yo te quiero yo me muero por tu amor
Siboney al arrullo de la palma pienso en ti
Ven a mi que te quiero y de todo tesoro eres tu para mi
Siboney al arrullo de la palma pienso en ti.
Siboney de mi sueño si no oyes la queja de mi voz
Siboney si no vienes me moriré de amor.“ [1]
Ist Fellinis „Amarcord” ein politischer Film? Fellini selbst hat dies verneint. Aber die Frage ist dann: Sind Fellinis Filme überhaupt politische Filme? Sicherlich nicht in einem plakativen Sinn. Vor allem aber ist „Amarcord”– übersetzt „Ich erinnere mich” („mi ricordo“ im Italienisch der Emilia Romagna) – ein grandioser, prall gefüllter Bilderbogen, ein mit satten Bildern gefüllter Reigen der Erinnerung an die Erinnerung. Auch wenn Fellini selbst autobiografische Züge in seinem Film verneinte, so spricht der Film dennoch Bände in dieser Hinsicht. „Amarcord” spielt in den 30er Jahren in Rimini und erzählt im strengen Sinn keine Geschichte im üblichen Sinn. „Amarcord” spielt zwischen den Jahreszeiten, dem Frühjahr des einen und dem des nächsten Jahres. Schon der Beginn des Films zeigt italienisches Leben in seiner ganzen Bandbreite – einen Friseur, der auf der Flöte spielt, Gespräche, Rufe, lautes Protestieren, die ganze Lebendigkeit einer Stadt, die Vorbereitungen auf ein abendliches Fest, das dazu dient, den Winter zu vertreiben. Eine Hexenfigur als Symbol des Winters soll auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt werden. Der ganze Ort ist auf den Beinen, es wuselt in den Straßen und Gassen, es ist laut, eine Kapelle spielt auf, ein Blinder spielt Akkordeon, einige Männer des Ortes steigen Volpina (Josiane Tanzilli), der Prostituierten nach, und ein Anwalt (Luigi Rossi) erzählt uns von den römischen und keltischen Ursprüngen der Geschichte der Stadt. Es zischt und knallt, als die Hexen-Puppe verbrannt wird, man schreit – und man freut sich auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die da bald kommen mögen.
In der Schule treffen wir am nächsten Tag auf den Rektor (Franco Magno), die verschiedenen Lehrer und die Schüler, die ihre üblichen Streiche veranstalten, in den Toiletten rauchen und vor allem an Frauen denken. Ein Lehrer lehrt emphatisch Disziplin, und in seinem tiefsten Inneren dürfte er spüren, wie sinnlos sein Unterfangen ist. Eine ältliche Lehrerin (Fides Stagni) beugt sich hinter ihr Pult und trinkt Alkoholisches, eine andere (Dina Adorni) ist empört, als sie eine Pfütze entdeckt und glaubt, der Schüler, der gerade an der Tafel eine komplizierte Rechenaufgabe lösen soll, habe uriniert, und nicht merkt, dass es seine Mitschüler waren, die durch mehrere miteinander verbundene Papierrohre diese Pfütze verursacht haben.
Im Zentrum dieser lebendigen Bilder aber steht die Familie Titta Biondis (Bruno Zanin), der leicht cholerische Vater Aurelio (Armando Brancia), den der Unsinn, den sein Sohn veranstaltet, auf die Palme bringt, dessen vitale Frau Miranda (Pupella Maggio), die mit ihrem Mann stets im Clinch liegt und ihm eines Tages den Rücken zukehrt, weil er meint, er könne ihren ernsten Gesichtsausruck nicht mehr sehen, Tittas ruhiger Onkel Patacca (Nando Orfei), den nichts aus der Ruhe bringen kann, und sein kleiner Bruder Oliva (Stefano Proietti). Und im Zentrum steht auch die Friseuse Gradisca (Magali Noël), die eigentlich anders heißt, der man aber im Ort einen Spitznamen gegeben hat, eben Gradisca, zu deutsch etwa „Bediene dich”, eine flotte, gut aussehende Mittvierzigerin, schick gekleidet, vor allem in roten Farben, und immer auf Männersuche, eine Frau, die aber eigentlich davon träumt, von einem Mann endlich geliebt und geheiratet zu werden. Gradisca wird von den Männern verehrt und verfolgt, von den männlichen Jugendlichen des öfteren veräppelt, aber ebenso begehrt.
Mit ironischer Sympathie und einem guten Schuss Komik „verfolgt” Fellini die Dutzenden von Figuren in diesem Rimini der 30er Jahre und zeigt – so grotesk das auch klingen mag – die Lebensfreude, die neben all dem Ärger, den Konflikten und vor allem der Präsenz des faschistischen Systems sich wie ein roter Faden durch dieses Jahr von Frühling zu Frühling zieht.
99 Prozent der Einwohner seien Mitglied der Partei, verkündet ein örtlicher Faschistenführer, als sich die Bevölkerung von Rimini auf die Straße begibt, weil man den Duce am Bahnhof erwartet. In einem grotesken Aufmarsch, der eher an eine Karnevalsveranstaltung erinnert, denn an eine politisch organisierte Demonstration, marschieren die Schwarzhemden durch den Ort. Ein übergroßer Kopf des Duce aus Papier oder Blumen ziert den Platz und lässt eher an einen Schweinskopf denken, denn an das Abbild einer lebendigen Person.
Nur einer will bei diesem Spektakel nicht mitmachen: Aurelio Biondi. Dessen Frau hat aus Angst um ihren Mann sämtliche Zugänge zum eigenen Haus versperrt, damit Aurelio nicht hinaus kann, um wieder irgendeine seiner Aktionen gegen die Faschisten zu inszenieren. Doch der gute Mann schafft es trotzdem: Am Abend müssen sich die Faschisten die Internationale anhören. Aurelio hat ein Grammophon im Glockenturm der Kirche positioniert. Er wird denunziert und muss sich am nächsten Tag den Repressalien der Schwarzhemden aussetzen. Eine ganze Flasche Rizinusöl muss er trinken und auf den Duce anstoßen. Glück gehabt, wird er sich denken. Es hätte schlimmer kommen können.
„Siboney de mis sueños te espero con ansias en mi caney
Siboney si no vienes me moriré de amor
Oye el eco de mi canto de cristal.” [1]
Tatsächlich ist „Amarcord” wohl „nur” die Erinnerung an die Erinnerung, eine bunte, mal laute, aber manchmal auch bedächtige Reminiszenz an die eigene Jugend, eine lebendige Rückschau auf ein Italien, in dem sich trotz der faschistischen Diktatur, trotz der Repressalien etwas erhalten hat, was man (paradoxerweise?) als Heimat in Solidarität nennen könnte, etwas, dass man sich für das nationalsozialistische Deutschland in der gleichen Zeit nur schwierig vorstellen könnte, etwas, dass die Sehnsüchte und Wünsche, die Bedürfnisse und das Begehren der Menschen demonstriert und in Bildern eindrücklich vermittelt. Und etwas, das zeigt, wie diese Gemeinschaft sich untereinander beisteht – trotz aller Widrigkeiten und Risiken, die da eben auch sind.
Dazu gehören auch die Jugendlichen, etwa wenn Titta und drei seiner Freunde in einem Auto sitzen, an die Dorfschönheiten denken, sich von ihren Reizen erzählen und dabei kräftig onanieren. Titta selbst träumt nicht nur von Gradisca und seiner Mathematiklehrerin und ihrer üppigen Oberweite, sondern auch von der Tabakverkäuferin, einer noch üppigeren Frau, die er bei Geschäftsschluss aufsucht und die ihm ihre Brüste entblößt, damit er ... Na, was wohl? Traum oder Wirklichkeit?
Dazu gehört auch Gradisca, die davon erzählt, sie habe im örtlichen Grand Hotel – einem dieser prächtigen Bauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Sex mit einem Fürsten gehabt – eine Geschichte, die ihr keiner glaubt, die man ihr aber lässt, weil man ihre Träume nicht zerbrechen will. Oder auch die Geschichte des radelnden Verkäufers Biscein (Gennaro Ombra), der behauptet, von den dreißig Haremsdamen eines im Grand Hotel abgestiegenen Emirs zum Fensterln aufgefordert worden zu sein, um dann immerhin mit 28 von ihnen geschlafen zu haben. Fellini inszeniert diese Episode der beiden Phantasien im Grand Hotel wie eine Art Hollywood-Spektakel. Und ein ganz ähnliches Spektakel veranstalten die Einwohner von Rimini, als ein riesiger amerikanischer Dampfer den Hafen der Stadt anlaufen soll. Schon tagsüber besteigen sie Boote aller Art, um dann endlich gegen ein Uhr nachts das riesige Schiff in Empfang zu nehmen.
Die so selbstverständliche solidarische Mentalität der Figuren Fellinis zeigt sich auch in einer Szene über den Besuch von Tittas Onkel Teo (Ciccio Ingrassia). Einmal im Jahr besucht ihn die ganze Familie Biondi in einem Heim für psychisch Kranke, um mit ihm irgendwo auf dem Land essen zu gehen. In diesem Jahr steigt der verrückte Onkel auf einen Baum und schreit „Ich will eine Frau!”, und niemand der Familie ist in der Lage, Teo vom Baum zu locken. Nein, Teo bewirft jeden mit Steinen, der sich auf der Leiter nähert. Erst eine aus der Psychiatrie herbeigerufene kleinwüchsige Nonne schafft es nach Stunden, Teo herunter zu holen.
„Siboney de mis sueños te espero con ansias en mi caney
Siboney si no vienes me moriré de amor
Oye el eco de mi canto de cristal.“ [1]
„Amarcord” ist in gewisser Hinsicht der Höhepunkt in Fellinis Schaffen, man könnte auch sagen die Quintessenz seiner filmischen Arbeit – besonders im Vergleich etwa zu Das süße Leben (1960) oder „Satyricon” (1969), zwei Filmen, in denen Fellini die Dekadenz der römischen Schickeria, die Leere und Desillusion des modernen städtischen Mittelklasse-Menschen (in „Satyricon” verkleidet in eine Geschichte, die im alten Rom spielt) und die Verlogenheit und Arroganz dieser Schicht geißelte. „Amarcord” ist sicherlich daher nicht nur Erinnerung der Erinnerung in Bilder gefasst, sondern eben auch Erinnerung an etwas Unverbrüchliches, etwas Authentisches, ohne dass dieses „Heimatgefühl” (wie extrem etwa in den deutschen Nachkriegs-Heimatfilmen) klischeebeladen, als verkehrte Welt oder illusionär oder die Realität verkleisternd wirken würde. „Amarcord” ist ganz anders, eine Reminiszenz und zugleich Ausdruck eines (unstillbaren?) Bedürfnisses nach diesem Authentischen, nach gelebter Solidarität, ohne dass Fellini die Risiken und Gefahren für dieses Kollektive und für das Bewahren des Individuellen im Kollektiven ausblenden würde.
Gerade in der Szene mit dem Abspielen der Internationalen, als die Schwarzhemden auf den Glockenturm schießen, als Aurelio verpfiffen wird, aber auch in der Schlussszene, als Gradisca einen Faschisten heiratet und Zweifel aufkommen müssen, ob sich in dieser Heirat ihre geheimsten Wünsche wirklich erfüllen, kommt in „Amarcord” dieser ständige Zweifel am Gelingen zum Ausdruck.
Es bleibt diese unstillbare Sehnsucht, unterstützt durch die exzellente Musik Nino Rotas und durch das alte Lied „Siboney”, eine Sehnsucht, die sich kaum im irrealen Raum der Phantasie abspielt, sondern konkrete Anknüpfungspunkte markiert.
Als es fast am Schluss des Films vier Tage lang schneit und Aurelio mal wieder heftig darüber schimpft, und als Titta zwischen den vom Schnee freigeschaufelten Wegen im Ort vergeblich Gradisca sucht, wird zudem einmal mehr deutlich, mit wie viel Humor Fellini diese Erinnerung an die Erinnerung inszeniert hat.
„Amarcord” ist (auch) ein politischer Film.
[1] „Siboney“ von Ernesto Lecuona (1929).