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    Zur falschen Zeit am falschen Ort
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Zur falschen Zeit am falschen Ort
    Von René Malgo

    Folter und Mord. Drei Jugendliche töteten einen 17-jährigen Mitschüler. Die 450-köpfige Gemeinde ist ratlos. Genug Stoff für eine reißerische Dokumentation oder einen dramatischen TV-Spielfilm. Bei solcher einer Thematik hätte vieles falsch gemacht werden können. Die junge Nachwuchsregisseurin Tamara Milosevic zeigt mit ihrer Abschlussarbeit der Filmakademie Ludwigsburg, wie man es richtig macht.

    Potzlow, Brandenburg, Juli 2002. Der 17-jährige Marinus wird von drei Jugendlichen brutal gequält, zu Tode misshandelt und in eine Jauchegrube verscharrt. Es dauert eine Weile, bis einer der Jugendlichen auf der Schule beginnt, mit der Tat anzugeben. Keiner glaubt ihm. Matthias war Marinus’ Freund. Er will es genau wissen und gräbt die Leiche aus. Nun ist er der Verräter. Traumatisiert bricht er die Schule ab, doch er muss sein Leben irgendwie wieder in den Griff bekommen.

    Da setzt die Dokumentation ein. Ihr könnte angekreidet werden, sie ginge zu wenig auf den Mord ein, zu wenig auf die Hänseleien gegen Matthias. Die Dokumentation eröffnet mit der Verlesung der Anklageschrift gegen die drei Schuldigen aus dem Off. Doch dann geht der Film in eine andere Richtung. Das Interesse wird mehr in Richtung Matthias gelenkt, seinem Alltag, Jahre danach. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ verzichtet auf nachgestellten Szenen und Spekulationen. Die Schuldigen kommen nicht zu Wort. Auch nicht die, die Matthias als Verräter abgestempelt hatten. Vielleicht wollten sie nicht zu Wort kommen, vielleicht durften sie nicht zu Wort kommen. Beides erscheint im Rahmen dieser Dokumentation, die den Schwerpunkt auf die Zeit danach legt, nachvollziehbar.

    Fast beiläufig erfährt und spürt der Zuschauer, wie Matthias zum Sündenbock gemacht wurde. Sein Vater meint, dass sich Matthias nun auf dieser schlimmen Sache ausruhen würde, dass er verstockt sei. Auch Matthias kommt zu Wort. Er will aus seinem Leben was machen, er will eine Lehre anfangen. Doch so einfach ist es nicht. Da ist noch das Trauma, da sind die seelischen Schäden - gleich doppelt eingebrannt, sein Freund wurde ermordet und in der Schule wurde Matthias als Verräter verschrien. Immerhin hatte er die Leiche hervorgeholt. Marinus, das Opfer, war immer ein Mitläufer, einer, der nicht zurückschlägt, einer, der nicht in die Gesellschaft passt, einer, der auf die Sonderschule gehörte, so erzählt Matthias’ Vater.

    Neben Matthias und seinem Vater kommen auch andere zu Wort. Meist reden sie nicht über den Mord. Es gibt auch andere Probleme, die Potzlow belasten, die seine Bewohner belasten. In Matthias’ sozialem Umfeld trinken sie Bier, kiffen und feiern Gartenpartys. Ohne Angst vor Konsequenzen zeigt die Dokumentation auch dieses Leben. Während einer Grillrunde wird der ewige Trinker, ein 36-jähriger Nichtsnutz, von Matthias Vater nicht gerade mit liebevollen Eigenschaften beschrieben, ein wenig geärgert. Der will das nicht, aber er ist zu betrunken, um sich zu wehren. Das Ganze ist vergleichsweise harmlos. Er wird in den See geschubst, etwas gehänselt. In einem Interview danach äußert er eher widerwillig seinen Unmut. Es ist doch nur Spaß, jeder kommt mal dran, sagt er sinngemäß. Es ist nun am Betrachter, den Zusammenhang herzustellen, den Sinn dieser Szene im gesamten Film zu sehen.

    Am Anfang fragt sich der Bürgermeister des Ortes, wie es zu so etwas kommen konnte. Er beklagt, dass die Medien nur schnelle Antworten haben wollen. Er vermutet die Schuld bei den Eltern, auch nur so eine schnelle, einfache Lösung. Tamara Milosevic stellt nicht durch erläuternde Kommentare die „große Kausalität“ zwischen den Ereignissen her. Es gibt keine Anmerkungen, Erläuterungen oder Statements von außen. Die verschiedenen Äußerungen werden nicht kommentiert. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ versucht möglichst objektiv und offen die Realität in Potzlow nach dem Mord wider zu geben. Es ist die Art der Montage und Zusammenstellung der Szenen, die dem Betrachter einige Schlüsse nahe legen. Nichtsdestotrotz muss sich jeder Zuschauer selbst mit dem Gesehenen auseinandersetzen. Darüber, was wohl diese ansatzweise harmlose Szene während einer Grillrunde am See für eine Bedeutung in der Dokumentation hat. Darüber, welche Bedeutung ausgerechnet dieses oder jenes begleitende, scheinbar überhaupt nicht „sachdienliche“ Interview oder Statement hat.

    „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ ist sicher und unauffällig inszeniert. Die Doku fällt nicht durch ausgefallene Mätzchen auf, alles ist der Thematik und der bestmöglichen Herangehensweise an diese untergeordnet. Einen Schönheitspreis wird „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ nicht gewinnen, die Qualitäten liegen irgendwo anders. Effektiv werden die 60 Minuten Spielzeit benutzt, um den Zuschauer in eine Welt, in ein Leben zu führen, welche ihm so fremd nicht sind. Das Resultat ist eine faszinierende Milieustudie, eine Dokumentation, die aufwühlt und Mut beweist. Es ist mutig, die Ansässigen offen zu Wort kommen zu lassen, denn manche Aussage ist nicht ohne…

    Während den Interviews sieht und hört das Publikum nur die Befragten. Erst in einem aufschlussreichen Gespräch mit der Mutter von Matthias hört der Zuschauer auch die Stimme ihrer Gesprächspartnerin. Die Interviewerin selbst bekommt man nie zu Gesicht. Manchmal wirkt es fast so, als sei eine versteckte Kamera installiert. Den Beteiligten gebührt ein Lob für ihre Offenheit. Mit ihren Aussagen ecken sie an, offenbaren eigene Abgründe, aber wahrscheinlich nicht immer gewollt.

    Matthias scheint keine großen Perspektiven zu haben. Die Distanz zwischen ihm und seinen Eltern ist nicht zu übersehen. Aber da ist auch Liebe und es sind noch mehr Missverständnisse. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ liefert keine Antworten. Am Ende wissen wir immer noch nicht verbindlich warum Marinus ermordet wurde, wir wissen nicht warum Matthias in der Schule als Verräter gehänselt wurde, wir wissen nicht, ob er mit seinem Trauma fertig werden kann, wir wissen nicht, ob seine Umwelt genug Verständnis für diese tiefen, nicht sichtbaren Wunden aufbringen wird. Trotzdem weiß das Publikum nach „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ weit mehr, als wenn die Dokumentation versucht hätte, verbindliche Antworten zu liefern...

    Am Ende kann sich der Betrachter schon einigermaßen ausmalen, wie so etwas passieren konnte … und vieles mehr sich zumindest dazu denken. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ ist eine dieser einfühlsamen, subtilen Dokumentationen, die einen nicht mit Fakten erschlagen, sondern dank einem geschickten Stil, den richtigen Andeutungen und dem richtigen Zusammenschnitt des Materials das Publikum nachhaltig zum Nachdenken anregen.

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