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    Vier Minuten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Vier Minuten
    Von Nicole Kühn

    Musik ist nicht nur die Weltsprache, weil jeder sie intuitiv versteht. Sie gibt auch dort eine Möglichkeit akustischer Äußerung, wo Worte fehlen oder fehl am Platz sind. In seinem zweiten Kinofilm führt Chris Kraus in der weitgehend isolierten Welt eines Gefängnisses zwei Frauen zusammen, die zwei Dinge gemeinsam haben: Schwierigkeiten mit sich und der Welt – und eine fast fanatische Hingabe an die Musik. Die spielt selbstverständlich eine der Hauptrollen in diesem emotional zwischen Überhitzung und Unterkühltheit changierendem Drama. Das Psychoduell krankt lediglich an der Unschlüssigkeit, wer denn nun die Hauptfigur ist und wie das Verhalten beider motiviert wird.

    Seit 60 Jahren gibt Traude Krüger (Monica Bleibtreu) Klavierunterricht in einem Frauenknast. Den gar nicht zart besaiteten Frauen tritt die gouvernantenhafte Dame mit kompromissloser Strenge und einer unüberwindbar scheinenden persönlichen Distanz gegenüber. Als sie auf die junge Jenny (eine Entdeckung: Hannah Herzsprung) stößt, trifft sie auf eine unberechenbare Gewaltbereitschaft, die sich gegen die eigene wie gegen fremde Personen vehement und ohne Rücksicht auf Verluste entlädt. Doch die Tatsache, dass in Jenny ein großes musikalisches Talent schlummert, das sie seit ihrer Kindheit verleugnet, weckt in beiden Frauen einen Ehrgeiz, der längst überwunden schien. Die Schatten der Vergangenheit haben sich zu einer harten Schale verfestigt, die ihre Kommunikation auf steinige Pfade zwingt. So nehmen sie den Kampf auf: Mit- und gegeneinander ringen sie sich einem wichtigen Musikwettbewerb entgegen, in dem Jenny vier Minuten lang Zeit haben wird, ihre Persönlichkeit in Klänge zu fassen.

    Regisseur Kraus macht das Klavier zur faszinierenden Arena einer doppelten Selbstfindung, die nur deshalb stattfinden kann, weil die beiden Suchenden in vieler Hinsicht konträr zueinander stehen und so genügend Reibungspunkte aneinander finden, um die wohl gepflegte äußere Hülle aufzureiben und an das Innere vorzustoßen. Die alte eiserne Lady hasst ihr Leben, weil sie einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begangen hat - und die junge Rebellin, weil sie ihre Leidenschaft aus einer Trotzreaktion heraus nicht zulassen möchte. Wie ein klassisches Musikstück ist das Werk komponiert aus einem Wechsel von Spannung und Entspannung, vom Anschwellen und Abklingen der Emotionen. Manches davon kommt unvorhergesehen wie ein Paukenschlag, so dass der Verdacht entsteht, dass die inhaltliche Logik hier dem dramaturgischen Rhythmus untergeordnet worden ist. Wenn sich Jenny als Kind an der Schwelle zur Jugendlichen in einem gewaltigen, schmerzhaften Prozess vom karriereorientierten Vater und dem dazugehörigen Marathon von Musikwettbewerben frei gemacht hat, dann wundert die Wirkungskraft des nun angestrebten Wettbewerbs als Lockmittel, um sich den strengen Maßstäben von Traude unterzuordnen. Zumal diese ganz offensichtlich nicht an einer musikalischen Selbstfindung von Jenny interessiert ist, sondern strikt im klassischen Kanon verbleibt.

    Sehr genau beobachtet ist die unfreiwillige gegenseitige Demaskierung der zentralen Figuren. Was hinter der zur Schau getragenen Härte steht, enthüllt sich beiden lediglich chiffriert in eruptiven Auseinandersetzungen. Dennoch spüren sie intuitiv, dass sie eine Ebene miteinander teilen, ohne sie explizit thematisieren zu müssen. Dazu kommt es denn auch erst im Lauf der Zeit.

    Die große Stärke des Films liegt in seiner atmosphärischen Sogwirkung. Umgeben von einer blassen Farbpalette zwischen eisblau und tristgrau versteht es das Ensemble, die nur kaschierten Verletzungen spürbar werden zu lassen. Judith Kaufmann beweist mit ihrer Bildgestaltung ein Gespür für aussagekräftige Details, die den Figuren sehr nahe kommt, ohne aufdringlich zu werden. Der Schlagabtausch hinter Gittern lässt nur wenig Raum, um die wallenden Emotionen sich setzen zu lassen und überträgt die innere Unruhe von Jenny und Traude auf den Zuschauer. Getragen wird diese Stimmung von der erfahrenen Monica Bleibtreu im Zusammenspiel mit der Debütantin Hanna Herzsprung. Wie dieses zierliche Mädchen voller verzweifelter Energie ihre brennende Wut auf sich selbst und die Welt hinausschreit, -schlägt, und -randaliert, ist bemerkenswert. Ebenso wie ihre Chuzpe, bei den Castings kurzerhand zu behaupten, sehr anspruchsvoll Klavier spielen zu können. So intensiv, wie sie in die Rolle der Jenny schlüpft, verzeiht man ihr diese Notlüge. Ihre schwierige Gratwanderung zwischen Verletzlichkeit und (Selbst)Zerstörungswut strebt auf das fulminante Finale zu, in dem sie burschikos im Abendkleid auf die Bühne tritt, um sich selbst und ihrem Publikum, vor allem aber ihrer Lehrerin einen berauschenden und exstatischen Eindruck von der Zwiespältigkeit ihrer Person gibt.

    „Vier Minuten“ ist ein radikaler Film, der nach insgesamt acht wechselvollen Entwicklungsjahren eine stringente Form gefunden hat. Schade nur, dass diese Stringenz durch das Verweben mit einer in befremdlich wirkenden Rückblenden erzählten zweiten Geschichte auf der inhaltlichen Ebene verwässert wird und damit die Konzentration vom zentralen Konflikt weg lenkt. Das wiederholte Anreißen der Vergangenheit von Traude in der Nazi-Zeit enthüllt zwar auf interessante Weise den blinden Fleck in ihrem Charakter, überfrachtet die Geschichte jedoch mit einem Thema, das als Nebenaspekt irritiert, zumal für die Vergangenheit der Jenny keine bildliche Entsprechung präsentiert wird. Abgesehen von diesem Ungleichgewicht lädt der Film ein, sich auf die komplexen Figuren einzulassen und bietet aufregende Kinounterhaltung.

    Zum FILMSTARTS.de-Interview mit dem Team von "Vier Minuten" anlässlich des Deutschen Filmpreises

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