In den vergangenen Jahren haben immer wieder Fälle von verhungerten und völlig verwahrlosten Kindern Schlagzeilen gemacht. Was vor gar nicht so langer Zeit praktisch noch unvorstellbar war, dass Eltern eines ihrer Kinder einfach sterben lassen, scheint mittlerweile fast schon um sich zu greifen. Diesen Eindruck gewinnt man zumindest, wenn man sich eine Chronologie der seit 2004 öffentlich gewordenen Fälle ansieht. Jedes Mal hat die Boulevardpresse von neuem Alarm geschlagen, und jedes Mal wurde der Ton der Berichterstattung noch ein wenig hysterischer. Für ein paar Wochen waren die Nachrichten dann wieder voll von sensationalistischen Meldungen und gut klingenden Forderungen, mit denen sich ansonsten profillose Politiker auch einmal ins Rampenlicht bringen konnten. Aber eines ist bisher immer noch ausgeblieben, eine grundsätzliche Diskussion über das Mutter- und Familienbild unserer Gesellschaft. Fragen nach den Tabus, mit denen unsere inzwischen schon jahrhundertealten Vorstellungen von der Mutterrolle behaftet sind, eignen sich nun einmal nicht für übergroße Schlagzeilen und reißerische 90-Sekunden-Berichte im Fernsehen. Sie erfordern vielmehr eine Ernsthaftigkeit und vor allem eine Unvoreingenommenheit, mit denen man in der Regel eben weder Auflagen noch Quoten machen kann. Also überlassen die Medien dieses zugegebenermaßen weite Feld der Kunst, und vielleicht ist das auch besser so. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich Maria Speths Drama „Madonnen“ ansieht. Der unaufgeregte, ganz und gar vorurteilsfreie Blick der Filmemacherin unterläuft jegliches Rollenklischee und zwingt den Betrachter so, seine eigenen Ideen von dem, was eine Mutter ausmacht, noch einmal genau zu überdenken.
Rita (Sandra Hüller) ist auf der Flucht. Vordergründig erst einmal nur vor der deutschen Polizei, die sie wegen mehrerer kleiner Diebstähle und anderer Delikte sucht. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Sie flieht auch vor sich selbst, vor einem Leben ohne Halt und ohne Ziel. Und so kann die junge Frau mit ihrem kleinen Baby auch in Belgien, wo sie ihren Vater ausfindig gemacht hat, keine Ruhe finden. Für kurze Zeit schlüpft sie bei ihm und seiner Familie unter. Aber ein peinlicher Zwischenfall führt schon bald dazu, dass er, der selbst als Polizist arbeitet, Rita den Behörden übergibt, die sie umgehend nach Deutschland abschieben. Nachdem sie dort ihre Haftstrafe im Mutter-Kind-Vollzug verbüßt hat, trifft sie eine überraschende Entscheidung. Schon lange vor ihrer Verhaftung hatte sie ihre anderen vier Kinder ihrer Mutter Isabella (Susanne Lothar) anvertraut. Doch nun holt sie die vier dort ab und zieht mit ihnen und dem Baby in eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung bei Frankfurt am Main. Unterstützt wird sie dabei von dem afroamerikanischen US-Soldaten Marc (Coleman Orlando Swinton), den sie noch während ihrer Haftzeit als Freigängerin kennen gelernt hat. Nur empfindet Rita ihre Kinder schon bald wieder als Last und drängt so ihre Älteste, die 12-jährige Fanny (Luisa Sappelt), in die Rolle der Ersatzmutter, die sich um die Kleinen kümmern muss.
„Madonnen“, dieser Titel ist natürlich erst einmal eine Provokation. Die von Sandra Hüller und Susanne Lothar gespielten Mütter haben nun wirklich nichts von den idealisierten Marien-Gestalten an sich, die sich durch die nunmehr fast zweitausendjährige christliche Kunst- und Kulturgeschichte ziehen. Die Männer in ihrem Leben sind immer wieder ganz schnell verschwunden. Sie haben sich aus der Verantwortung gestohlen und die beiden Frauen mit ihren Kindern alleine gelassen. In dieser Welt der kurzlebigen, von einem Tag auf den anderen zerbrechenden Beziehungen haben Rita und Isabella an keinem Ort und bei keinem Menschen je Trost gefunden; und so haben auch sie nie gelernt, anderen Trost zu spenden.
Isabella, die in Susanne Lothars so zurückgenommener wie präziser Darstellung ganz und gar unnahbar wirkt, die jede noch so schwache Emotion mit aller Macht unterdrückt, hat sich ganz auf ihr an einem Autobahnrastplatz gelegenes Restaurant konzentriert. Da blieb weder für ihre Tochter noch für ihre Enkelkinder viel Zeit. Aber mit ihrer Arbeit hatte sie zumindest etwas, das ihr Halt geben konnte. Diese Flucht in die Arbeit kam für Rita nie in Frage. Sie, die Isabella einmal auch ganz direkt vorwirft, sie habe sich nie um sie gekümmert, hat sich immer nur an ihrer Mutter rächen wollen. Und so hat sie von einem US-Soldaten nach dem anderen Kinder bekommen, ohne sich jemals eine eigene Existenz aufzubauen. So wie Sandra Hüller sie spielt, erkennt man in Rita sofort den bockigen Teenager wieder, der älter aber eben nie erwachsenen geworden ist. Von der Zartheit und Zerbrechlichkeit, die sie in Hans-Christian Schmids Requiem unvergesslich gemacht haben, ist in dieser Rolle nichts mehr zu spüren. Die Intensität ihres Spiels ist wieder genauso groß, nur ist Rita das genaue Gegenteil von der an Epilepsie leidenden Michaela aus Schmids emotionalem Horrortrip. Selbst in den kurzen Momenten des Glücks, die ihr der fürsorgliche und liebevolle Marc schenkt, wirkt Sandra Hüllers Rita noch angespannt und aggressiv. Gleich einer wilden, in ihrem Innersten aber vollkommen verängstigten Katze ist sie ständig kurz davor, ihre Krallen auszufahren und die Menschen um sie herum zu attackieren. Nur in dieser Abwehrhaltung kann sie sich ein wenig sicher fühlen.
Maria Speth und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider wahren meist eine gewisse Distanz zu Rita und den anderen Figuren. Die Entfernung ermöglicht es ihnen wie auch dem Betrachter, das Verhalten der Charaktere in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Rita und die anderen sind Gefangene ihrer Lebensumstände. Und wie eng ihr Spielraum letztlich ist, offenbart Maria Speths unvoreingenommener Blick. Anders als ihre Charaktere urteilt sie in keiner Situation. Ihre langen, vorwiegend sehr ruhigen Einstellungen lassen dem Zuschauer genau die Zeit, die er braucht, sich dem Geschehen aus mehreren Perspektiven zu nähern. So entsteht ein Gefühl von Ambivalenz, das letztlich jede vorgefasste Meinung und alle mit der Zeit selbstverständlich gewordenen gesellschaftlichen Konzepte in Frage stellt. Wie die Gebrüder Dardenne, die den Film mitproduziert haben, geht es Maria Speth dabei weder um individuelle noch um gesellschaftliche Schuldzuweisungen. Sie versteht sich vielmehr als eine Beobachterin, die die Welt und die Dinge einfach so zeigt, wie sie sind. Die vielfältigen Zusammenhänge ergeben sich wie von selbst im Auge des Zuschauers, der nun eigenständig seine Schlüsse ziehen muss.
Wie wichtig Dauer und Distanz in Maria Speths ästhetischem Programm sind, erfährt man schon recht früh. Durch Rita, die sich mit ihrem Säugling in dem ordentlichen Einfamilienhaus ihres Vaters eingenistet hat, lernt ihr jugendlicher Halbbruder eine neue Welt kennen. Er ist fasziniert von der jungen Frau und der Offenheit, mit der sie ihm entgegentritt. Als er miterlebt, wie sie ihr Baby stillt, fragt er sie, wie ihre Milch schmecke. Rita gestattet ihm daraufhin, sie zu probieren. Gerade als er an ihrer Brust saugt, kommt seine Mutter dazu. In der Wahrnehmung der Mutter hat diese Szene etwas zutiefst Obszönes. Sie kann in ihr nur eine Perversion entdecken. Dabei ist Rita in diesem Moment tatsächlich eine Madonna. Sie schenkt ihrem Halbbruder das, wonach er sich wirklich sehnt: ein Gefühl von Geborgenheit, wie es ansonsten nur ein Baby empfinden kann.
Natürlich hat Isabella ihre Tochter geformt, und natürlich werden es Ritas Kinder einmal nicht leicht haben, über all das hinwegzukommen, was sie mit ihrer Mutter erlebt haben. Das weiß auch Maria Speth. Es wäre also ganz einfach, die beiden als Rabenmütter zu charakterisieren und den Stab über sie zu brechen. Aber damit würde man es sich viel zu leicht machen. Eine Gesellschaft, die sich immer noch an das antiquierte Idealbild von der Mutter als Madonna klammert, verleugnet neben der Realität auch die eigene Verantwortung. Kein Kind ist nur das Produkt seiner Eltern. Die vielen, oft auch gegensätzlichen Kräfte, die es im Lauf der Zeit formen, auf Film zu bannen und so in ihrer ganzen Komplexität erfahrbar zu machen, das ist eine Leistung, die man gar nicht hoch genug rühmen kann.