Es war das Medienereignis des Sommers 2002: In Potzlow, einem 500-Einwohner-Dorf in Brandenburg, 60 Kilometer nördlich von Berlin, töten die Brüder Marco und Marcel Schönfeld zusammen mit ihrem Bekannten Sebastian Fink den 16-jährigen Marinus Schöbert und verscharren seine Leiche in einer Jauchegrube. Davor hatten sie ihr Opfer, das zu Marcels Bekanntenkreis gehörte, stundenlang gefoltert – unter den Augen von mindestens drei erwachsenen Potzlowern. Andreas Veiels „Der Kick“ ist nach Tamara Milosevics Filmakademie-Abschlussarbeit „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ schon der zweite Dokumentarfilm, der über dieses Verbrechen in die Kinos kommt. Er zeichnet ein genaues, vorurteilsfreies Bild insbesondere von den Brüdern Marcel und Marco und ihrer Familie und lässt die Zuschauer trotz starker Verfremdung und unterkühltem Tonfall erschüttert zurück.
Eigentlich handelt es sich um filmisches Recycling. „Der Kick“ ist zunächst ein Theaterstück, ein gemeinsames Projekt von Veiel (Europäischer Filmpreis, Deutscher Filmpreis für „Black Box BRD“, Panorama Publikumspreis der Berlinale für „Die Spielwütigen“) und der Dramaturgin Gesine Schmidt. Uraufgeführt wurde es im Gewerbehof in der alten Königsstadt in Berlin. Auch die gefilmte Version spielt sich auf dieser Bühne ab.
Wie kann man solch ein „unvorstellbares“ (das gebräuchliche hilflose Adjektiv) Geschehen in einem Film verarbeiten? Von der vorherrschenden journalistischen Berichterstattung, die die leicht konsumierbare Sensation will, lässt sich nur lernen, wie man es nicht machen sollte. Über Monate haben Veiel und Schmidt immer wieder mit den Tätern, ihren Angehörigen und denen des Opfers, mit Bekannten und anderen Dorfbewohnern gesprochen und die Gespräche aufgezeichnet. Sie haben sie mit Verhörprotokollen, Plädoyers und Interviewaussagen zu einer dichten Collage ergänzt. Die beiden Schauspieler Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch verkörpern auf großartige Weise zu zweit alle 20 auftretenden Personen. Ganz in Schwarz gekleidet, lenkt nichts an ihrem unauffälligen Äußeren vom Wesentlichen ab. Ein Kunstgriff, der die vorurteilsfreie Wahrnehmung dessen, was die Personen tatsächlich sagen, erleichtert. „Der Kick“ gleitet aber nie in eine bürokratische Nüchternheit ab, die beim Zuschauer außer Langeweile keine Gefühle mehr auslöst und somit letztlich nichts anderes tut, als den Mord zu verharmlosen. Allein schon die Intensität, mit der Wrage und Lerch jede einzelne ihrer Rollen ausfüllen, verhindert das. Mit Stimme, Mimik und Körpersprache lassen sie aus den aufgezeichneten Aussagen glaubwürdige Charaktere entstehen. Die schauspielerische Leistung, alle Personen so darzustellen, dass man zu jedem Zeitpunkt, ohne es sich auch nur bewusst machen zu müssen, sofort weiß, wer gerade spricht, ist bewundernswert. Entscheidender aber ist, dass sie in ihren Darstellungen weder verharmlosen noch als intellektuell und emotional verkrüppelt denunzieren. Man sieht eine Interpretation der Aussagen der Beteiligten, die als Interpretation erkennbar, aber dabei so intensiv ist, dass man sich mit ihr beschäftigt, genauer: sie einen beschäftigt, ob man will oder nicht. Veiel sagt, durch die Art der Darstellung entstehe Distanz. Einerseits ist das schon so. Es sollte aber nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass man sich ihrer emotionalen Kraft entziehen könnte.
Es ist zuviel, um es hier nur ansatzweise zu beschreiben. Da ist immer wieder diese diffuse dumpfe Fremdenfeindlichkeit bei allen, die so alltäglich daherkommt, dass sie fast harmlos wirkt. Dann erschrickt man kurz, eines dieser beliebigen Ressentiments aus dem Mund der Mutter des Opfers zu hören. Da ist das Stockholm-Syndrom beim vom Film gefangen genommenen Zuschauer, wenn er ein gewisses Maß an Mitleid für diese Täter und ihre Eltern empfindet, obwohl die doch zu keinem Zeitpunkt welches für das Opfer aufbringen können. Müsste er sich nicht doch den donnernden Worten des Staatsanwalts anschließen, der das ganze Dorf als von Grund auf moralisch verkommen brandmarkt? Schließlich kann man es im Laufe des Films erschließen, aus einigen so ganz nebenbei gemachten Äußerungen: Mehrere Potzlower haben zugesehen, wie die Täter Marinus folterten. Als er am nächsten Tag vermisst gemeldet wurde und monatelang nicht mehr auftauchte, ging nicht einer von ihnen zur Polizei. Da sind die Eltern von Marcel und Marco. Sie lügen sich ihre Kinder zu Opfern um und merken es anscheinend nicht. Merken sie auch nicht, was sie damit sagen, wenn sie mal eben erwähnen, dass das Opfer ihrer Söhne geklaut habe, sowieso eigentlich asozial war? Als wäre sein Leben dadurch weniger wertvoll gewesen. Da sind diese abgeschalteten Empfindungen. Sie haben Marinus immer wieder „in die Fresse geschlagen“, sagen die Täter, ohne den entmenschlichenden Ausdruck, geht es ihnen nicht über die Lippen. Aber der Hass wirkt nicht so, als richte er sich gegen jemand bestimmten. Auch man selbst hat „in die Fresse gekriegt“. Da sind die Stellen, wo die Empfindungen wieder da sind und man glaubt zu spüren, wie sie verschwinden konnten. All das erklärt nichts. Aber wer meint, sich, ohne hier genau hinzusehen, irgend etwas erklären zu können, der liegt sicher falsch.
Natürlich stellt sich die Frage, wo in diesem Zwei-Personen-Theaterstück das filmische Element steckt, das neben dem - ja legitimen - Anspruch, im Kino vielleicht noch ein paar Leute mehr zu erreichen, die Umsetzung als Film erst rechtfertigen würde. Film ist immer autoritärer als Theater: der Blick des Zuschauers wird von der Kamera gelenkt. Auf der Kinoleinwand sind die Menschen größer als in der Realität, jede Gefühlsregung, die sie zeigen, ist es deshalb auch. Gehört ausgerechnet Veiels analytisches Theaterstück auf die Leinwand, so wie – Extrembeispiel – Peter Jacksons großartiges Morddrama „Heavenly Creatures“ fraglos auf die Kinoleinwand gehört (dass sich die behandelten Morde nur sehr bedingt vergleichen lassen, ist schon klar)? Für jemanden der die Wirkung dieses Films im Kino erlebt hat, bleibt das eine rein theoretische Frage. Die Arbeit mit Licht und vor allem Ton und Raum ist zwar reduziert, funktioniert im Kino aber ganz hervorragend. Sie gibt dem Film zusammen mit dem Wechsel von Nahaufnahmen und Totalen aus teilweise recht ungewöhnlichen Perspektiven Rhythmus und Struktur und lässt in einigen überraschenden Einstellungen die Bilder in den Köpfen der Zuschauer entstehen. Höchstens das einzige Requisit, die bewegliche Box, die hauptsächlich dazu zu dienen scheint, den Charakter besonders unpersönlicher Aussagen (zum Beispiel die Auszüge aus Verhörprotokollen) visuell zu unterstreichen, ließe sich als etwas zu theaterhafter Bühneneinfall kritisieren. Vor allem kann die Kamera die Gesichter von Wrage und Lerch näher heranrücken, als das im Theater möglich wäre. Die beiden Darsteller nutzen diese Möglichkeit zu einer ausgesprochen differenzierten mimischen Darstellung. In ihr spiegeln sich die Sensibilität und Genauigkeit des ganzen Films.