Wo ist die Grenze des guten Geschmacks? Was ist noch unter dem Oberbegriff der künstlerischen Freiheit abzuhaken und was verstößt gegen jede Moral? Diese Fragen drängen sich nach „Mein erstes Wunder“ geradezu auf. Die Jury, die sich für die Verleihung des Max-Ophüls-Preises verantwortlich zeichnet, hatte keine Bedenken und kürte Anne Wilds neustes Werk zum besten vorgeführten Film des diesjährigen Festivals. Doch an „Mein erstes Wunder“ werden sich die Geister scheiden, denn was wie eine anrührende Liebesgeschichte im Stile von „Harold und Maude“ beginnt, entwickelt sich zu einem mehr als provokanten Plot, in dem das Täter-Opfer-Prinzip bei einer Kindesentführung ad absurdum geführt wird.
Im Mittelpunkt steht die erst elfjährige Jole (Henriette Confurius). Ihre Mutter Franziska (Juliane Köhler) muss sie alleine erziehen und tut dies auf eine sehr anti-autoritäre Art und Weise. Jole ist eines jener Kinder, die alles bekommen, was sie wollen. Sie ist es gewohnt, der einzige Lebensinhalt Franziskas zu sein, doch als diese, aus Angst vor der Einsamkeit im Alter, eine Liason mit dem Geschäftsmann Philipp (Devid Striesow) eingeht, ändert sich dies. Jole ist jedoch keineswegs bereit, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter mit Philipp zu teilen und versucht alles, was in ihrer Macht steht, um diese Beziehung zu untergraben. Während des gemeinsamen Urlaubs am Meer lernt sie den ebenfalls vom Leben frustrierten und kurz vor seiner Pension stehenden Hermann (Leonard Lansink) kennen. Die beiden erschaffen sich eine Traumwelt, um der rauen Realität des Alltags zu entfliehen und halten auch nach dem Urlaub weiterhin Kontakt. Als Hermanns Frau Margot (Gabriela Maria Schmeide) dem Treiben auf die Schliche kommt, versucht sie ihm die Augen zu öffnen und bittet ihn, den Kontakt zu Jole abzubrechen. Hermann willigt ein, doch als Jole an seinem Geburtstag nach einem Streit mit ihrer Mutter vor seiner Haustür steht, machen sich die beiden auf, um ihren Traum ein letztes Mal gemeinsam zu leben.
„Mein erstes Wunder“ hinterlässt einen mehr als zwiespältigen Eindruck. Die erste Hälfte des Films weiß wirklich zu gefallen. Die sich entwickelnde Zuneigung zwischen den Außenseitern Jole und Hermann ist herzergreifend. Regisseurin Anne Wild lässt der Geschichte viel Zeit sich zu entwickeln und den Hauptdarstellern viel Freiraum, was keineswegs ein Fehler ist, denn sowohl Henriette Confurius als auch Leonard Lansink versprühen einen gewissen Charme und sind in der Lage, das Publikum zu fesseln. Kameramann Wojciech Szepel verstößt eigentlich gegen alle Regeln seines Fachwerks. Beispielsweise wird die Kamera direkt in die Sonne gehalten und Spiegelungen im Fenster des fahrenden Autos verhindern den Blick auf die Darsteller. Doch gerade durch solche Dinge, die in vielen anderen Filmen als Schwächen anzusehen wären, wird „Mein erstes Wunder“ zu etwas Besonderem und versprüht einen Hauch von Authentizität, die sich angenehm vom heutigen Hochglanzkino abhebt. Die tieftraurigen Mollharmonien von Nicholas Lens tun ihr übriges, um den ersten Teil des Films zu einer der faszinierendsten und ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der letzten Jahre werden zu lassen.
Was dann allerdings im zweiten Teil der Geschichte passiert, wird vielen einen gewaltigen Schlag vor den Kopf versetzen. Was eigentlich wie eine Kindesentführung aussieht, ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Das Täter-Opfer-Prinzip wird, wie Eingangs erwähnt, auf den Kopf gestellt. Hermann ist nicht in der Lage, sich von Jole zu lösen und zur Realität zurück zu finden. Er ist absolut willenlos. Doch was noch viel unverständlicher erscheint, ist das Verhalten Franziskas. Ist sie anfangs auf der Suche nach ihrer Tochter völlig außer sich, entwickelt sie mehr und mehr eine nicht nachvollziehbare Gleichgültigkeit. Anstatt intensiv nach ihrer Tochter zu suchen, wird in der Diskothek getanzt und getrunken. Das Publikum muss dies alles kopfschüttelnd über sich ergehen lassen.
Was will uns Anne Wild mitteilen, wenn sie ein elfjähriges Kind zum Täter und den vermeidlichen Entführer zum Opfer macht? Will sie schockieren? Provozieren? Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in und um Eschweiler erscheint „Mein erstes Wunder“ völlig deplaziert. Selbst in Zeiten von Selbstmordattentaten, Amok laufenden Heckenschützen und Völkermorden gehören Kindesentführungen zu den schlimmstmöglichen Greultaten. Die Tatsache, dass diese hier phasenweise noch glorifiziert werden, ist schlicht und einfach taktlos. Dieser inhaltliche, kapitale Fehlgriff ruiniert den Film und verwährt ihm deshalb eine bessere Bewertung, die nach den ersten rund sechzig Minuten schon sicher erschien.