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    Dobermann
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Dobermann
    Von Robert Cherkowski

    Nach zwölf Jahren im Zwinger des Indexes für jugendgefährdende Medien haben sich 2011 endlich die Kerkertüren geöffnet, um eine der wildesten Bestien des europäischen Gegenwartskinos in die frei Wildbahn zu entlassen: Jan Kounens „Dobermann" – ein cineastischer Wuchtbrocken sondersgleichen. Auch oberhalb der Ladentheke und ohne den Reiz des Verbotenen ist Kounens hundsgemeiner Thriller eine urgewaltige Erfahrung; auch über ein Jahrzehnt später kann des Menschen bester Freund, Vincent Cassel, immer noch so kraftvoll zubeißen wie am ersten Spieltag. Zahlreiche Genre-Filmer, darunter etwa Mark Neveldine und Brian Taylor („Crank"), haben seitdem versucht, sich an der aggressiven Power Kounens zu messen. Am Ende mussten sie jedoch alle die weiße Fahne hissen. Zu kalkuliert und letztlich harmlos gerieten ihre Versuche, Kounens höchst asozialen, visuell, sexuell und moralisch derangierten Film auszustechen. „Dobermann" ist ihnen einfach immer eine Schnauzenlänge voraus.

    Vor dem Gangster Yann Le Pentrec alias „Dobermann" (Vincent Cassel) ist keine Bank und kein Geldtransporter sicher. Mit seiner Freundin, der tauben Zigeunerin Nathalie (Monica Bellucci), und einer Bande exzentrischer Pistoleros macht er Frankreich unsicher. Die Polizei hat das Nachsehen und wird von der brutalen „Dobermann-Gang" immer wieder abgehängt, bis der Höllenhund von einem Bullen Christini (Tchéky Karyo) Blut leckt und die Fährte der Bande aufnimmt. Damit werden auf allen Seiten die Glaceehandschuhe abgelegt und der Krieg zwischen Polizei und Räubern eskaliert...

    Nach zehn Minuten liegen die Karten auf dem Tisch und die Sause kann losgehen. Der Pegel an Obszönität, Gewalt und hysterischem Tohuwabohu, den Kounen in immer bizarrere Höhen treibt, überwältigt auch heute noch. Inszenatorisch wird hier ein Feuerwerk zum Besten gegeben, wie man es im europäischen Genre-Kino bis dahin höchstens vom versponnen Märchenonkel Jean-Pierre Jeunet („Delicatessen") erwartet hätte. So schrill, dynamisch und schnell geschnitten, wie die Hatz durch die abgefucktesten Ecken von Paris hier ausfällt, verwundert es kaum, dass sich Kounen zuvor mit Musikvideos einen Namen gemacht hat. Ganz ohne Einflüsse ging er dabei freilich nicht zugange, gehörte er doch zur Clique der Bilderstürmer des französischen Films, also jener Mannschaft um Mathieu Kassovitz („Hass") und Gaspar Noé („Menschenfeind", „Irreversibel"), die auszog, um dem (Arthouse-)Kino der Neunziger eine Adrenalinspritze zu verpassen.

    Der Einfluss seiner Weggefährten ist klar erkennbar. So lieh sich Kounen bei Kassovitz dessen Star Vincent Cassel, der hier – bevor er zur französischen Allzweckwaffe wurde – als junger Wilder dem Affen Zucker gibt. Noe ließ sich ebenfalls nicht lumpen und übernahm sogar eine kleine Rolle. Die psychedelische Experimentierfreude, mit der Noe in den nächsten Jahren von sich reden machen sollte, ist dabei ebenso spürbar wie die hektisch montierten, grellen Breitseiten aufs französische Spießbürgertum von Kassovitz' „Hass". Kounen pfeift auf die Sehgewohnheiten und das Empfinden seines Publikums und überfordert es von Anfang an, indem er keine seiner Rollen im Mindesten sympathisch anlegt. Die Bande des Dobermanns rekrutiert sich aus einer brandgefährlichen Gruppe sozialer Außenseiter und exzentrischer Psychos, denen man selbst am helllichten Tage nicht über den Weg laufen möchte.

    Als da wären der leicht debile, vermeintlich inszestiös veranlagte Manu (Romain Duris), der nervöse Moustique (Antoine Basler), der perverse, stets in Kutte auftretende „Priester" (Dominique Bettenfeld) und das tumbe Muskelpaket „Pitbull" (Chick Ortega): Hier hat einfach jeder einen gewaltigen und herrlich ungeschönten Hau weg. Und ob man es nun glaubt oder nicht: Das sind noch die Guten! Ihnen steht mit Tchéky Karyo als Christini ein Bulle gegenüber, dessen Methoden so weit jenseits von Gut und Böse stehen, dass er eher auf die rote Couch statt auf die Straße gehört. Schon im kurz zuvor angelaufenen „Hass" kam die Pariser Polizei nicht gut weg und wurde von Kassovitz als Bande gewaltgeiler Faschisten gezeichnet. Karyos Christini schießt den Vogel allerdings endgültig ab und gibt seinen Platzhalter staatlicher Gewalt als spießigen, homophoben und sadistischen Albtraum – Christini ist mehr als ein Antagonist, er ist ein unvergessliches Scheusal.

    Allein die Großaufnahmen von Christinis irrsinniger Fratze zeigen exemplarisch, dass hier nicht einfach nur im Crime-Pulp gewühlt, sondern das Genre-Korsett immer wieder gesprengt wird. Wer „nur" einen ruppigen Macho-Actioner erwartet, der wird sein blaues Wunder erleben in Anbetracht der schweren Geschütze, die Kounen gegen heteronormative Sehgewohnheiten auffährt. Die Geschlechterpolitik von „Dobermann" legte damals so manche Stirn in Falten. Der offene Umgang mit Transsexualität läßt den Film wie die Gangsterversion eines John-Waters-Films wirken. Besonders die Szene, in der der bisexuelle Transvestit Sonia/Olivier vor den Augen ihrer/seiner biederen Mittelstandsfamilie gefoltert und gedemütigt wird, überschreitet die Grenzen des guten Geschmacks entschieden. Die extremen Gewaltspitzen (Stichwort: Handgranate im Motoradhelm) wirken dagegen fast leicht verdaulich.

    Wenn sich die Parteien schließlich zu einem völlig kirren Finale in einem Techno-Club zusammenfinden, wird der entschiedene Schritt ins Reich der reinen Psychose vollzogen. Im Verlauf von 103 Minuten Irrsinn werden sich Schöngeister und Freunde des zuschauerfreundlichen Actionkinos mit seinen klaren Gut/Böse-Schemata gleichermaßen die Haare raufen. Nach der Veröffentlichung 1997 wurde „Dobermann" von allen Seiten als voyeuristische Gewaltorgie und Beleidigung für den guten Geschmack gescholten. Dieser Einschätzung kann man bis heute kaum widersprechen, trifft sie doch den Nagel auf den Kopf. Ebenso aber passen Attribute wie „moderner Klassiker" und „Meisterwerk des konfrontativen Hochglanz-Trash". „Dobermann" tut weh, strengt an und ist schlichtweg ein unvergleichlich intensives Erlebnis. Ein Film wie er im Buche steht – nämlich im Strafgesetzbuch!

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