Seitdem digitale Techniken eine im Vergleich zur herkömmlichen 35-mm-Produktion kostengünstigere und flexiblere Alternative bieten, werden immer mehr Kinofilme ganz oder teilweise mit DV-Kameras aufgenommen. Leider sehen diese Werke häufig aus wie billige Imitate, weil die spezifischen Unterschiede zwischen digitalen und analogen Bildern ignoriert werden oder aber tatsächlich versucht wird, den Look eines klassischen Kinofilms mit der Videokamera nachzuahmen. Bisher waren relativ wenige Filme in unseren Lichtspielhäusern zu sehen, deren Macher gezielt die spezifischen Qualitäten der Videobilder genutzt und ihre vom analogen Kino grundverschiedene Ästhetik erforscht haben. Zu den im Ergebnis sehr unterschiedlichen Versuchen in dieser Richtung gehören Arbeiten von Michael Mann (Collateral, Miami Vice), David Lynch (Inland Empire und David Fincher (Zodiac) sowie Last Radio Show. Der chinesische Filmemacher Jia Zhang-Ke und sein Kameramann Lik-Wai Yu liefern uns nun mit ihrem vielschichtigen Werk „Still Life“ ein besonders gelungenes Beispiel für den anspruchsvollen Einsatz einer HD-Videokamera. Der formal augeklügelte Film entzieht sich einer eindeutigen Genrezuordnung und trägt Elemente eines Beziehungsdramas, einer Gesellschaftschronik und eines symbolischen Experimentalfilms in sich.
Der Bergmann Han Sang-Min (der Laiendarsteller tritt unter seinem eigenen Namen auf) kommt mit der Fähre aus der entfernten Provinz Shanxi in Fengjie am Drei-Schluchten-Staudamm an. Er sucht dort nach seiner Frau Missy Ma, die ihn 16 Jahre zuvor mit dem neugeborenen gemeinsamen Kind verlassen hat. Han möchte seine Tochter nun endlich kennenlernen. Doch die Han vorliegende Adresse gibt es nicht mehr. Die Straße wurde im Zuge des gigantischen Staudammprojekts am Jangtsekiang bereits überflutet. Über Verwandte von Missy erfährt er, dass ihre Rückkehr zu einem unbestimmten Zeitpunkt zu erwarten sei, also heuert er als Abrissarbeiter in der schon halb im Wasser verschwundenen Stadt an. Überall zeigen Markierungen nach der nächsten Flutungsstufe angestrebten Wasserstand an. Auch die Krankenschwester Guo Shen-Hong (Tao Zhao) ist inmitten der Ruinen auf der Suche. Ihr Ehemann, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen hat, ist inzwischen in leitender Funktion bei der Abrissbehörde tätig, und es kommt erst nach Umwegen und Verzögerungen zur Wiederbegegnung. Auch Hang Sang-Min und Missy Ma sehen sich schließlich wieder.
Der 1970 geborene Jia Zhang-Ke hat vor „Still Life“ bereits mit vier weiteren Spielfilmen international auf sich aufmerksam gemacht, die jedoch leider nicht in den deutschen Kinos zu sehen waren. Nachdem „Still Life“ bei den Filmfestspielen in Venedig 2006 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, hat sich nun erstmals ein deutscher Verleih gefunden, der uns aber die gleichzeitig entstandene Dokumentation „Dong“, die als Gegenstück zu „Still Life“ gelten kann, vorenthält.
Bisher wurde „Still Life“ vor allem dafür gewürdigt, dass Jia Zhang-Ke ein kritisches Porträt der chinesischen Gesellschaft im Umbruch zeichnet. Die Maßlosigkeit des gigantischen Projekts des Drei-Schluchten-Staudamms mit seinen millionenfachen Zwangsumsiedlungen, der Überflutung zahlreicher Ortschaften und den unabsehbaren Umweltfolgen zeigt Jia wie beiläufig. In den Trümmerlandschaften halb abgerissener Städte und in seinen orientierungslosen Figuren spürt er aber nicht nur dem Schwebezustand Chinas zwischen Kader-Kommunismus und Turbo-Kapitalismus nach. Er ist auch auf der Suche nach der angemessenen Ästhetik und Dramaturgie für das Oszillieren zwischen Stillstand und radikaler Veränderung.
Während der chinesische Originaltitel „Sanxia haoren“ (Die guten Menschen von den drei Schluchten) sich auf die erwähnte inhaltliche Ebene des Films bezieht, ist das für den internationalen Markt eingesetzte „Still Life“ ein Hinweis auf die formale Gestaltung. Nicht wenige Einstellungen sind tatsächlich wie ein Stillleben komponiert, wenn etwa verstaubte Gegenstände auf einem Tisch präsentiert werden oder die Kamera noch etwas verharrt, obwohl die Menschen das Bildfeld schon verlassen haben. Auch viele Dialogszenen sind in einer festen sorgfältig arrangierten Einstellung gefilmt. Die Personen suchen nach den richtigen Worten, die Beziehungen und die Kommunikation sind stets gefährdet. Diesem Befund entspricht die Tatsache, dass Jia nur rudimentär eine Geschichte im konventionellen Sinne erzählt. Die beiden Handlungsstränge sind nicht miteinander verbunden, aber durch wiederkehrende Motive wird doch ein großer Bogen gespannt.
Mit Überschriften, die seinen Film in Teilstücke gliedern, weist Jia auf die Zirkulation verschiedener begehrter Waren hin: Zigaretten, Alkohol, Bonbons. Immer wieder wird mit ihrer Hilfe Kontakt geknüpft, Wohlwollen erkauft oder Sympathie bekundet. Dinge werden zur Währung und das Geld selbst zum vieldeutigen Symbol im Zentrum eines Zaubertricks. Wenn die Arbeiter sich ihre Heimatgegenden gegenseitig auf den Landschaftspanoramen der Geldscheine zeigen, bekommen diese nicht nur eine persönlich-nostalgische Bedeutung, sondern es wird auch auf die Rolle des Geldes für das Verlassen und Aufgeben der Heimat verwiesen. Ähnlich komplex werden die trotz teilweise großer Armut allgegenwärtigen Mobiltelefone eingesetzt. Die durch das Handy suggerierte ständige Erreichbarkeit wird hier durch unzählige erfolglose Kontaktversuche konterkariert. Und wenn ein als Klingelton programmierter Popsong als letztes Lebenszeichen eines Verschütteten unter den Bautrümmern hervorhallt, ist dies ein bitterer und todtrauriger Moment. Gefühle sind in der Welt von „Still Life“ tief vergraben und kommen nur in sentimentalen Schnulzen punktuell zum Ausbruch.
Jia Zhang-Ke lässt sich viel Zeit für die Erkundung von Menschen und Landschaften in langen Einstellungen und langsamen meist seitlichen Kamerafahrten. Mit der gleichmäßigen Schärfe seiner hochauflösenden Bilder fördert er die Tiefe und Weite der Wahrnehmung, wobei gezielt eingesetzte Unschärfen einige der wenigen Schnitte begleiten: Der Fluss der Bilder tritt gewissermaßen über seine Ufer. Ähnlich wie den prekären Status der präsentierten Lebenswelt gilt es auch die Mittel seiner Aufzeichnung immer wieder zu hinterfragen. Und wer hier eine überkonstruierte Kopfgeburt vermutet, kann in „Still Life“ Ausschau halten nach fliegenden Untertassen, Raumschiffen und Seiltänzern und sich von der spielerischen Komponente dieser überaus faszinierenden Arbeit überzeugen.