In Deutschland feierte der Mystery-Psychothriller „Strange Circus“ im Internationalen Forum des jungen Films auf der Berlinale 2006 seine Erstaufführung. Nun wird der bewegende Film von Sion Sono, der in Japan bereits mit dem Meisterregisseur Takashi Miike („Big Bang Love: Juvenile A“, The Great Yokai War, The Call) verglichen wird, im Rahmen des Fantasy Filmfestes erneut auf den deutschen Leinwänden zu sehen sein.
In 108 packenden und unter die Haut gehenden Minuten nimmt sich der ehemalige Experimentalfilmer Sono, der zuletzt international mit dem Mystery-Horrorstreifen „Suicide Circle“ aufgefallen war, einem cineastisch wenig angesprochenem Thema an: Kindesmissbrauch und die familiären Katastrophen, die daraus resultieren. Das Thema allein ist sicher schon verschreckend und verstörend genug, doch der Ausnahmeregisseur kleidet diesen Plot in eine Mischwelt aus immer mehr ins Fantastische abgleitender Realität, verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und der kindlichen Verarbeitungsebene in dem nicht nur seltsamen sondern vielmehr grotesken Zirkus. Selbst David Lynch („Twin Peaks“, Lost Highway, Mulholland Drive), der Altmeister der verworrenen Erzählung, könnte in diesem Stakkato von Erzähl- und Deutungsebenen schnell den Überblick verlieren.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die junge Mitsuko (Rie Kuwana), ein zwölfjähriges Mädchen, das von ihrem Vater Gozo (Hiroshi Ohguchi), einem strengen Schuldirektor, sexuell missbraucht wird. In einem Cellokasten versteckt muss das Mädchen ihren Eltern beim Sex zusehen. Die Perversion geht soweit, dass auch Mitsukos Mutter Sayuri (Masumi Miyazaki) vom grausamen Patriarchen einbezogen wird und mit Mitsuko die Rolle tauschen muss. Statt ihre Tochter zu beschützen, betrachtet sie sie zunehmend als Rivalin und misshandelt sie physisch aus Frust, wann immer der Vater die beiden allein lässt. Misshandlungen und psychische Auseinandersetzungen steuern unausweichlich auf die große Tragödie zu, während Mitsuko versucht, das ihr Widerfahrene durch die Fantasiewelt des strange circus zu verarbeiten, in der sie vor allem das gute Verhältnis zur Mutter wieder herstellen will. Plötzlich macht der Film eine weitere Handlungsebene auf. Die erotische Schriftstellerin Taeko (Masumi Miyazi) hat gerade ihr neues Werk vollendet, dessen Manuskript sich als die bisher gesehene Filmhandlung entpuppt. Gemeinsam mit ihrem jungen Assistenten Yuji (Issei Ishida) macht sich der Zuschauer auf, das Geheimnis der Beziehung zwischen der zeitweilig völlig gestört wirkenden Taeko und dem Mädchen Mitsuko zu lüften.
Das Rätselspiel um dieses erschütternde Thema macht „Strange Circus“ zu einem Ausnahmefilm, der nichts für schwache Nerven ist. Die nüchtern dargestellten, teilweise in kalte oder blutrote Farbschemen getauchten Szenen, die Mitsukos Horrortrip durch die von strengen Regeln durchzogene japanische Familienhölle dokumentieren, sind nicht immer was für zartbesaitete Zuschauer. Grausiger Höhepunkt ist die Operation nach Mitsukos Selbstmordversuch, bei dem alle furchtbaren Einzelheiten des Eingriffes mit der Traumwelt des Zirkus parallel montiert und mit harmlosester Klaviermusik im Dreivierteltakt fast schon höhnisch untermalt sind, während dem Publikum das Popcorn im Hals stecken bleibt. Überhaupt spielt die Musik eine sehr große Rolle in diesem Film: Walzer und Klaviermusik wurden zu einem spannenden Soundtrack zusammengestellt, aus dem das fast schon sakrale Orgelthema des jungen AssistentenYuji deutlich herausfällt. Kein Wunder, dass Sono in seiner Heimat Japan immer öfter mit Takashi Miike verglichen wird, denn Szenen wie die Operation oder der Showdown des Films passen sehr gut in das von Miike verfochtene radikale Schema der schonungslosen Darstellung des filmisch Gezeigten.
Die Montage der Szenen unterstützt den surrealen Touch des Films und ermöglicht zunächst keine Orientierung, da die Ebenen stark ineinander verflochten sind. Geschickt nutzt Sion Sono, von dem auch das Drehbuch zu „Strange Circus“ stammt, bewährte Muster wie Suspense-Techniken, um sein Publikum immer bei der Stange zu halten und über den Ausgang spekulieren zu lassen. Fortlaufend lässt er kleine Anspielungen und Andeutungen in die Handlung einfließen, die sich in der Folge als bedeutsam herausstellen. Getragen wird der Film jedoch auch in großem Ausmaß von seinen Darstellern. Die junge Rie Kunawa überzeugt in ihrer ersten großen Rolle durch ihre sehr lakonische Performanz und die wenigen, gezielten Ausbrüche, die Mitsuko charakterisieren. Ihr zur Seite steht nach fast zehnjähriger Leinwandpause in einer dreifachen Rolle zwischen Opfer, Täter, Genie und Wahnsinn die japanische Schauspielerin Masumi Miyazaki, welche die der Herausforderung der facettenreichen Figuren mit Bravour meistert. Issei Ishida als Yuji profitiert in besonderem Maße davon, dass Regisseur Sono sich die Zeit nimmt, die vielen, manchmal fast subtilen Gesten seines Schauspielers für den Film einzufangen und einzusetzen.
Dennoch bringt „Strange Circus“ auch ein paar Probleme mit sich. Das größte ist sicherlich, dass zum Ende hin sich die Handlung auf immer abgefahreneren Sphären bewegt. Nicht jeder Zuschauer ist bereit, diese Entwicklungen konsequent bis zur Auflösung mitzumachen. Sono verliert einen Teil des Publikums trotz der Aufforderung durch seinen Zirkus-Direktor im Prolog des Films, bis zum letzten Akt dabei zu bleiben. Dennoch macht gerade dieser letzte Schritt genau den Individualismus aus, der Sono von einer bloßen Kopie der Techniken von Lynch und Miike abhebt. Das zweite Problem ist, dass der Film durch die vielen Wiederholungen der Schlüsselsätze manchmal etwas belehrend wirkt und das Publikum an der Findung eigener Schlussfolgerungen hindert.
„Strange Circus“ ist ein spannender und schockierender Film über Kindesmissbrauch und Inzest und allein wegen der Bearbeitung des Themas Aufmerksamkeit verdient. Wer sich neben den Martial-Arts-und Science-Fiction-Inhalten des Fantasy Filmfestes den Kontrast eines unbequemen, außergewöhnlich umgesetzten Psychodramas geben will, ist mit Sion Sonos Film genau richtig beraten.