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    Chungking Express
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Chungking Express
    Von Christian Horn

    1995 war „Chungking Express“ der erste Film, der auf seinem Plakat mit dem heute inflationär (und oft irrational) gebrauchten Gütesiegel „empfohlen von Quentin Tarantino“ warb. Tatsächlich hat Tarantino (ein intimer Kenner des Hongkong-Kinos, auf das er sich in seinen Werken immer wieder gerne bezieht) Wong Kar-wais drittem Kinofilm mit „Miramax“ einen amerikanischen Verleih besorgt, der zusätzlich auch den Weltvertrieb übernahm. Der verhältnismäßig große Kinoerfolg beschleunigte trotz einiger mäkeliger Filmkritiken Kar-wais internationalen Durchbruch - einen Durchbruch, der ihn von Happy Together über In The Mood For Love (beides Kritikerlieblinge) bis in die USA beförderte, wo er mit My Blueberry Nights seinen bislang schwächsten Film abgelieferte. Heute gilt „Chungking Express“ als einer der stilprägenden Filme der Neunzigerjahre. Kar-wais Stil in diesem Film, der maßgeblich von Kameramann Christopher Doyle (Hero, Paranoid Park) mitgeprägt wurde, fand sich später bei so unterschiedlichen Regisseuren und Filmen wie Oskar Röhlers „Silvester Countdown“ oder Jan Krügers Kurzfilm „Tango Apasionado“ (veröffentlicht in der Kurzfilm-Kompilation Verführung von Engeln) wieder. Wobei auch der „Chungking Express“ selbst ein deutliches Vorbild hat: Jean Luc-Godard nämlich, den Wong Kar-wai nach eigener Aussage huldigt und dessen Stil der Hongkong-Regisseur in seinen frühen Filmen auf die Spitze trieb – zwar mit mehr Oberfläche und weniger Philosophie, doch das ist nicht unbedingt negativ. „Chungking Express“ bewegt sich stilsicher zwischen Quentin Tarantino und der Postmoderne, Jean-Luc Godard und der „Nouvelle Vague“, MTV und dem spezifischen Duktus des Hongkong-Kinos.

    Der Plot dreht sich – wie eigentlich immer bei Wong Kar-wai – um die Liebe, wobei „Chungking Express“ in zwei Hälften geteilt ist. Die erste erzählt von einem Polizisten mit der Dienstnummer 223 (Takeshi Kaneshiro, House Of Flying Daggers), der verzweifelt versucht, die Beziehung zu seiner großen Liebe wieder aufzubauen. Die will allerdings nichts mehr von ihm wissen, hat einen neuen Freund und taucht im Film kein einziges Mal auf. So streift 223 mit hängendem Kopf durch die Hongkonger Nächte, monologisiert aus dem Off über seine Situation, das Leben und die Liebe. Außerdem hortet er Ananas-Dosen mit dem Verfallsdatum 1.5.99, denn seine Verflossene liebte Ananas und am 1. Mai will er nun eine neue Liebe finden. In einer Bar trifft er auf eine Frau mit einer blonden Perücke (Brigitte Lin), die in dubiose Geschäfte verwickelt ist, mit ihrer Pistole um sich schießt und stets sowohl eine Sonnenbrille als auch einen Regenmantel trägt, weil man ja nie weiß, ob es nicht doch mal regnet. 223 hat Pech: Mit der neuen Frau klappt es auch nicht und letztlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als eine stattliche Anzahl verdorbener Ananas-Dosen in sich hinein zu stopfen. Etwa in der Mitte des Films trifft er in seiner Stamm-Imbissbude dann auf einen anderen Polizisten mit der Dienstnummer 663 (Tony Leung Chiu-wai, Bullet In The Head, Infernal Affairs). Kurzentschlossen folgt die Handkamera nun diesem und begleitet ihn in der zweiten Hälfte des Films. Auch 663 hat Liebesprobleme: Faye (Faye Wong), die junge Tochter des Imbissbuden-Besitzers, ist Hals über Kopf in 663 verliebt, gelangt an seinen Wohnungsschlüssel und schleicht sich regelmäßig heimlich dorthin, um das Bett mit einer Lupe abzusuchen und Einrichtungsgegenstände umzustellen. Die zaghaft, beinahe unmerklich aufkeimende Zuneigung wird jäh unterbrochen, als Faye nach Kalifornien auswandert. Hier ist die Liebe nicht einfach nur zu Ende, sie ist vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat.

    Diese beiden Geschichten werden recht unverbindlich erzählt: Es gibt keine Spannungskurven, keine Dramaturgie im klassischen Sinn, keine Plot Points und keine Katharsis – nichts dergleichen. Was es gibt, ist der außergewöhnliche Stil. Mit seinen verwackelten Handkamera-Bildern, Zeitlupen und Zeitraffern, verwischten und unscharfen Einstellungen, verzerrten Spiegelungen und extravaganter Lichtgebung, mit verblüffenden, verwirrenden Aufnahmen und schnellen, unkonventionellen Schnitten nimmt „Chungking Express“ den Zuschauer gefangen. Die stetigen Kommentare aus dem Off, die zentrale Einsicht, dass alles ein Verfallsdatum hat, und andere verstreute philosophische Äußerungen fügen sich den virtuosen Oberflächenreizen entsprechend zu keinem konsistenten Ganzen. Doch das gereicht „Chungking Express“ nicht zum Nachteil: Der zuweilen tatsächlich prätentiöse Film transportiert seine zentrale Aussage über die Form, die sowohl das Hongkonger Stadtleben als auch die Beziehungsunfähigkeit der Protagonisten reflektiert. Und dem Zuschauer bleibt kaum etwas anderes übrig, als gebannt zu sein von der Bilderflut, von den bunten Farben und den raffinierten Arrangements: „Chungking Express“ entwickelt allein durch seine visuelle Form einen regelrechten Sog.

    Die extravagante Form ist vor allem Oberfläche, einer konventionellen Geschichte verweigert sich der Film – zwar nicht gänzlich, aber doch in weiten Teilen. Und das ist nicht das einzige postmoderne an „Chungking Express“: Nicht aufdringlich, aber doch spürbar, reflektiert Wong Kar-wai das filmische Medium selbst. Etwa, wenn aus dem Off der Song California Dreamin‘ ertönt und in dem Moment aufhört, als Faye ihren Kassettenrekorder ausschaltet. Die Musik tritt also zunächst als vom Regisseur platziert auf und schwenkt plötzlich auf die Ebene der Figuren, die ja normalerweise keine Musik aus dem Off hören, geschweige denn auf diese Einfluss nehmen können, um. Auf seine Fiktionalität verweist der Film außerdem durch seine bildlichen Metaphern und Verfremdungen, die alles andere als Realitätsnähe erzeugen. Trotz Handkamera und Improvisationen hat „Chungking Express“ überhaupt nichts Dokumentarisches an sich. Im Gegenteil: Jede Szene, jede Sequenz verweist auf den Kunstcharakter des Films – 24 Mal in der Sekunde, würde Jean-Luc Godard dazu sagen.

    Es ist in erster Linie dieser postmoderne Gestus, der „Chungking Express“ so fabelhaft macht. Wong Kar-wai hat einen Film gedreht, der nie zur Ruhe kommt und sich kaum Zeit nimmt, in die Tiefenstruktur der Figuren oder Ereignisse vorzudringen – einen Film also, der Zeichen der Zeit wie in einem Spiegel modelliert. Was bei anderen Filmen ein Ärgernis wäre, funktioniert bei „Chungking Express“ ganz hervorragend. Gerade dadurch, dass er nicht tiefer vordringt, öffnet er ein weites inhaltliches Spektrum, wobei er dem Betrachter viel Raum für eigene Gedanken lässt: Denn in Wong Kar-wais Film-Mosaik blitzen dermaßen viele gute Ideen auf, dass man damit gleich zehn interessante Filme füllen könnte. Und während man der einen Idee noch nachhängt, kommt auch schon die nächste. Dazu mahnen die immer wieder eingeblendeten Uhren und die Spiele mit der Zeitstruktur: Gleich ist es vorbei, schnell weiter.

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