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    Die Thuranos
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Thuranos
    Von Carsten Baumgardt

    Ein Dokumentarfilm über das Leben einer legendären Artistenfamilie. Das klingt nicht unbedingt überwältigend aufregend ... um nicht sagen, langweilig. Doch diese möglichen Vorbehalte gegenüber Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers „Die Thuranos - Leben auf dem Drahtseil“ sind unbegründet. Das Filmemacher-Ehepaar thematisiert natürlich auch die Passion der Künstler, das Varieté, aber nach und nach entwickelt sich der clever strukturierte Film zu einer packenden Familienchronik.

    Mit 95 Jahren ist Konrad Thur der älteste lebende Varieté-Künstler weltweit. Der Begründer der „Familie Thurano“ wurde im Alter von 15 Jahren beim Turnen in einem Freibad in seiner Düsseldorfer Heimat entdeckt und sofort als Artist für das renommierte Apollo Theater verpflichtet. Noch heute steht der ehemals beste Hochseilartist der Welt auf der Bühne. Gemeinsam mit seinem 58-jährigen Sohn John wird er vom Publikum für seine komische Doppel-Drahtseilnummer gefeiert. Dieses Stück aus dem aktuellen Programm der Thuranos bildet die Rahmenhandlung und den roten Faden des Films, der die Familiengeschichte chronologisch aufarbeitet. In Interviews lassen die Filmemacher alle Mitglieder der Künstlerfamilie zu Wort kommen. Umfangreich vorhandenes Archivmaterial der Thuranos, das bis in die 30er Jahre zurückreicht, ergänzt die Handlung.

    Zunächst steht Konrad Thur im Mittelpunkt. Trotz seines hohen Alters ist er erstaunlich fit. Mit seinem bodenständigen Charme und viel rheinischem Humor zieht er Kinobesucher wie Varieté-Publikum in seinen Bann. Nach der Heirat mit Henriette, einer Tochter aus der Althoff-Zirkus-Dynastie, kommen die drei Kinder Jeanette, Sabine und John in Südafrika zur Welt. Vorher hatte sich Thur schon längst als Trapezkünstler an der Perchstange etabliert. Der Zweite Weltkrieg verschlägt die Thurs nach Südafrika, wo sie beim Boswell-Zirkus Anstellung finden. Nach Kriegsausbruch werden die im Zirkus beschäftigten Männer von den Alliierten für sieben Monate inhaftiert. Erst 1958 kehren die Thurs nach Deutschland zurück. Der Versuch, einen eigenen Zirkus auf die Beine zu stellen, endet im Ruin, deswegen bleibt als Alternative nur die Rückkehr nach Europa.

    Während der jüngste Sohn John bestimmt und mit Energie die Geschäfts-Geschicke leitet und auch als Artist talentiert ist, entschließt sich Sabine, als junge Frau auszusteigen und in Dänemark zu heiraten. Trotzdem hat sie die Leidenschaft für das Varieté im Blut. Im Gegensatz zur ältesten Thur-Tochter Jeanette. Und hier beweisen Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker, die die Thurs zweieinhalb Jahre begleiteten und ihnen bis zurück nach Südafrika folgten, ein sehr feines Gespür. Gerade die Aussagen von Jeanette, die damals in Afrika geblieben ist und ebenfalls jung heiratete, machen den Film interessant. Zunächst muss der Betrachter bei ihren Kommentaren zwischen den Zeilen lesen, später wird es dann immer deutlicher. Zwischen ihr und der restlichen Familie herrscht Distanz und Uneinigkeit. Was lange Zeit nur zu ahnen war, spricht sie später auch aus. „Ich respektiere meine Eltern“, sagt sie an einer Stelle distanziert. Mehr nicht. Sie hat das Varieté gehasst, aber noch mehr verabscheute sie das ständige Herumreisen. Sie fühlt sich um ihre Kindheit betrogen. Gerade diese Passagen verleihen dem Film Ausgewogenheit, Tiefe und Glaubwürdigkeit.

    Aber auch Johns dänische Ehefrau Marjolyn äußert sich durchaus kritisch zum Wanderleben der Thurs und blickt über den Tellerrand hinaus. Durch das viele Reisen ist die gesamte Familie vielsprachig, wie der komplette Film. Konrad und Henriette, die inzwischen nach 75 Ehejahren verstorben ist, sprechen Deutsch, die Kinder vorwiegend Englisch, aber auch Dänisch und Holländisch. Am Anfang tritt ein wenig Ungeduld zutage. Doch mit der Zeit wird das Konzept der Regisseure klar. Die Informationen werden nach und nach, Stück für Stück vertieft und erweitert, sodass sich eine klare, sehr geschickte Struktur herauskristallisiert. Das Leben der Thurs wird in Intervallen entblättert. Und es ist die Geschichte der Familie, die auf der ganzen Welt, in Afrika, Asien, Amerika und Europa gearbeitet hat, die die Faszination des Films ausmacht. Irgendwann geht es nicht mehr vordergründig um Artisten und Varieté, sondern um das Geflecht von Charakteren und in welcher Verbindung sie zueinander stehen. Verwandtschaftsverhältnisse und andere Zusammenhänge klären sich erst mit der Zeit. Doch eines ist unumstößlich. Arbeit und Familie: Diese beiden Punkte stehen bei den Thurs immer im Mittelpunkt.

    Neben dem etwas schleppenden Beginn, der seine Zeit braucht, um das Interesse zu wecken, wird der politische Aspekt in der Dokumentation etwas vernachlässigt. Zum Thema Nazi-Deutschland und Apartheid in Südafrika haben die Thurs nicht viel zu sagen. Aber sie sind auch durch und durch unpolitische Menschen. Konrad Thur war es egal, für wen er spielte, ob schwarz oder weiß. Sie spielen, um den Zuschauern Freude zu bereiten. Mehr noch spielen sie für den Applaus. Das ist das wichtigste, das hat sie süchtig gemacht. So sehr dass Konrad Thur mit 95 Jahren noch auf der Bühne steht... So ist der Film keineswegs nur für Zirkus- und Varieté-Freunde zu empfehlen. „Die Thuranos“ ist nicht nur die Geschichte eine Familie, sondern vor allem eine feine Charakterstudie, die ihre Programmkinoauswertung verdient hat.

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