Das deutsche Kino genießt international nicht immer den besten Ruf. Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass in Deutschland keine guten Filme produziert werden. Sie sind nur seltener, aber es gibt sie. Ein in mehrerlei Hinsicht beachtliches Kinodebüt gelang jetzt dem Werbe- und Clipfilmer Philipp Stölzl. Sein tragisch-komisches Independent-Drama „Baby“ entzieht sich den üblichen Konventionen und überrascht durch eine ungewöhnliche Story, die leicht hätte eskalieren können. Aber Stölzl findet die richtige Balance und zeigt ein feines Gespür für seine ambivalenten Charaktere.
Die beiden Taugenichtse Frank (Filip Peeters) und Paul (Lars Rudolph) hat das Schicksal auf ungewöhnliche Weise zusammen geführt. Bei einem gemeinsamen Urlaub an der niederländischen Nordseeküste verloren sie beide bei einem tragischen Verkehrsunfall ihre Frauen. Seitdem leben sie in einer eheähnlichen Wohngemeinschaft zusammen mit Franks mittlerweile 15-jähriger Tochter Lilli (Alice Dwyer), die bei dem Urlaub damals um ein Haar in der See ertrunken wäre. Das Trio schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Frank und Paul arbeiten als Rausschmeißer und Hilfe in einem Nachtclub, nebenbei verdingen sie sich noch als Kleinkriminelle. Doch das geht eines Tages schief. Bei einem Raubüberfall auf einen Elektronik-Discounter werden sie von einem Wachmann erwischt. Bei einem Gerangel erschießt Paul den Mann aus Versehen. Auch mit Lilli gibt es Probleme. Als sie Tommy (Hamid Bundu) mit nach Hause bringt, passt es Frank nicht, dass er ein Farbiger ist und schmeißt ihn am Ende raus. Lilli ist beleidigt. Aus Rache verführt sie Paul und schläft mit ihm. Als Frank herausfindet, dass Lilli schwanger ist, dreht er durch. Er stattet dem „Verdächtigen“ Tommy einen Besuch ab und erschießt ihn im Affekt. Frank landet im Knast, während Lilli und Paul sich gemeinsam aus dem Staub machen und nach Holland fliehen. Das bizarre Paar findet Unterschlupf auf einem Campingplatz an der Nordsee...
Erstlingsregisseur Philipp Stölzl (36) begann nach dem Abitur als Bühnenbildner am Theater. 1996 wechselte er die Branche und startete eine Karriere als Videoclip- und Werbefilmer. Er wurde zum Hausregisseur von Marius Müller-Westernhagen („Nimm mich mit“, „Rosanna“, „Durch Deine Liebe“, „Ich bin wieder hier“ u.a.) und drehte für Stars wie Madonna, a-ha, Garbage, Die Ärzte und Rammstein Videos. Müller-Westernhagen war es auch, der den Anstoß zum neuerlichen Umschwung gab. Er animierte Stölzl dazu, sich einmal an einem Kinofilm zu versuchen. Nach langem hin und her stand das zwei Millionen Euro teure Projekt „Baby“ vor dem Start. Ursprünglich wollte Stölzl Müller-Westernhagen für die Hauptrolle zu einem Schauspiel-Comeback bewegen, aber er lehnte ab, weil ihm die Rolle nicht bedeutend genug war. So ging der Part an Lars Rudolph.
Bemerkenswert ist zunächst einmal die Tatsache, dass „Baby“ auf den ersten Blick alles andere ist, als dass, was man von einem Werbe- und Clipfilmer erwartet. Als abschreckendes Beispiel sei an dieser Stelle Marcus Nispels grausiges Hochglanz-Gemetzel „Texas Chainsaw Massacre" genannt. In gelackten Bildern lässt er das Blut spritzen, aber Eigenständigkeit und Ideen völlig vermissen. Nicht so Stölzl. Das gewagte Drama bleibt durch den trockenen, lakonischen Humor meist verdaubar. Seine Schar von White-Trash-Figuren zeichnet eine sorgsame Charakterbildung aus, die den skurillen Gestalten Möglichkeiten zur Entfaltung bietet, ohne zu langweilen. Dabei gelingt Stölzl ein seltenes Kunststück. Obwohl vor allem Frank im Grunde ein höchst unsympathischer Zeitgenosse ist, bekommt er dennoch ein paar versöhnliche Charakterzüge mit, die das Interesse des Publikums auf Trab halten. Ähnliches gilt für Paul. Die Tatsache, dass er die 15-jährige Tochter seines besten Freundes fickt, prädestiniert ihn nicht gerade für den Freundschaftspreis. Aber Paul ist eine arme Sau, ein Simpel, der nichts Böses im Schilde führt und sich eigentlich nur seinem Schicksal ergibt.
Dass die Geschichte, die teils hart ans Ertragbare grenzt, dennoch Spaß macht, ist zum einem den superben Schauspielern zu verdanken, aber auch den starken Dialogen aus der Feder von Veteran Wolfgang Kohlhaase, der das Drehbuch von David Hamblyn überarbeitete. Lars Rudolph („Luther", „Der Krieger und die Kaiserin“, „Lola rennt“) spielt den Sonderling Paul mit rührender Intensität, während der Belgier Filip Peeters („Der Felsen“, „Everybody Famous“, „Antonias Welt“) seinen explosiven Charakter ausleben darf. Dass die beiden gute Schauspieler sind, ist bekannt, die Überraschung ist die ausgezeichnete Leistung von Alice Dwyer. Die 15-Jährige, die zuletzt schon in Hans-Christian Schmids brillantem Ost-West-Drama „Lichter" begeisterte, zeigt, dass sie zu den zu größten Talenten in ihrer Altersklasse zählt. Die Stieftochter von Co-Regisseur Johannes Grebert, die erst zwei Wochen vor Drehstart an Bord kam, liefert eine überragende Leistung. Als Lilli ist sie alles andere als unschuldig. Durchtrieben, aber nicht böse. Eigenwillig, aber dennoch liebenswert. Der feinen Regie von Philipp Stölzl ist es zu verdanken, dass seine Geschichte nicht zu einem Pädophilie-Drama verkommt. Auch wenn die Beziehungen zwischen Paul und Lilli höchst bizarr ist, geben die Darsteller ihren Charakteren immer Glaubwürdigkeit.
Optisch ist „Baby“ ebenfalls beachtenswert. In fabelhaften Cinemascope-Bildern vermittelt Stölzl Atmosphäre. Das hat nichts mit Hochglanz-Optik zu tun, füllt aber dennoch die große Leinwand. Besonders die Aufnahmen an der niederländischen Nordsee strahlen eine seltsame Faszination aus, obwohl alles trist und düster wirkt. Viel zu bemängeln gibt es an „Baby“ nicht. Klar ist, dass sich der Kinobesucher auf die eigenwilligen Charaktere einlassen muss, sonst funktioniert der ganze Film nicht. Wer genau mitdenkt, ist auch von der Pointe am Ende nicht allzu überrascht. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten. Vielmehr sollte die Freude darüber überwiegen, dass ein deutscher Erstlingsregisseur bei seinem Kinodebüt einmal nicht auf ausgelatschten Pfaden wandelt, sondern etwas eigenes, etwas eigenständiges geschaffen hat. Ein Film mit Seele.
Interview mit „Baby“-Regisseur Philipp Stölz: Die „Kopfbilder sind entscheidend“
Ursprünglich hatte Philipp Stölzl einen ganz anderen Beruf erlernt - nämlich den des Bühnenbildners. 1967 in München als Sohn einer Familie von kunstsinnigen Kulturmenschen geboren, begann er 1987 gleich nach dem Abitur als Bühnen- & Kostüm-Assistent bei den Münchner Kammerspielen. In den nächsten Jahren hatte Stölzl so die Möglichkeit dank des Status der renommierten Bühne viele der wichtigsten Theaterschaffenden in Deutschland und Europa kennen zu lernen. Ab 1991 arbeitete Stölzl an verschiedenen Bühnen in Deutschland, entwarf Bühnenbilder, gestaltete Kostüme und Plakate. Zudem schrieb er zwei Musicals und brachte diese auf die Bühne. Während dieser Zeit arbeitete er unter anderem mit Armin Petras und Johanna Schall am Deutschen Theater in Berlin. Doch so sehr es Philipp Stölzl am Theater gefiel - er wollte Veränderung. Darum beschloss er 1996 die Branche zu wechseln und trat einen Job als Art-Director bei den legendären Video-Clip-Produzenten Doro in Wien an. Dort war er schon bald über seine eigentlichen Aufgaben hinaus tätig und begann damit seine Karriere als international gefragter Video-, Werbe- und Filmregisseur. Das Interview führte Carsten Baumgardt während der Berlinale 2004.
Filmstarts.de: War es von Anfang an klar, dass „Baby“ ein Kino-Projekt wird? Oder hattet ihr zunächst geplant, den Film direkt ins Fernsehen zu bringen?
Philipp Stölzl: „Baby“ ist eine klassische Fernseh-Co-Produktion. Eine Auswertung im Kino war vor Beginn nicht unbedingt angedacht, aber nicht ausgeschlossen. Weil der Film bei einigen Festivals gut angekommen ist, fand er noch seinen Weg ins Kino. Beim Filmfestival in San Sebastian erhielt „Baby“ eine Publikumsauszeichnung. Im September 2003 hatte der Film durch das Interesse der Besucher sogar einen kleinen Start in den spanischen Kinos – also noch vor Deutschland. Im deutschen Fernsehen wird „Baby“ bei NDR und Arte laufen.
Filmstarts.de: Stimmt es, dass Marius Müller-Westernhagen dich dazu ermutigt hat, einen Kinofilm zu drehen?
Philipp Stölzl: Ja, das ist wahr. Wir haben viele Videos zusammen gedreht. Ihm hat die Arbeit mit mir gut gefallen und beim Dreh hat er mich immer angestachelt, ich wäre ja nun auch schon über 30 und es wäre höchste Zeit, dass ich mich mal einem Kinofilm stelle.
Filmstarts.de: Müller-Westernhagen war ursprünglich für die Rolle des Paul, den jetzt Lars Rudolph spielt, vorgesehen...
Philipp Stölzl: Dass hat sich dann anders entwickelt. Ich kann mir die Besetzung allerdings anders als jetzt auch gar nicht mehr vorstellen. Das sich Besetzungen verschieben, ist völlig normal im Geschäft.
Filmstarts.de: „Baby“ sieht überhaupt nicht aus wie das Debüt eines Werbe- und Clipfilmers. Keine Hochglanzästhetik und schnellen Schnitte, dafür erzeugt der Film eine Stimmung, wie sie selten ist für eine deutsche Produktion. War dir das wichtig, sich bewusst gegen das Klischee des Clip-Regisseurs zu stemmen?
Philipp Stölzl: Nein, das war keine Absicht. Auch Videoclips sehen sehr unterschiedlich aus. Jedes Thema findet seine eigene Ästhetik. Was ich nicht mag, ist alles mit einer stilisierten Optik zu überziehen. Zum Beispiel über alle Aufnahmen einen Rot- oder Blaufilter zu setzen. Das passt oft nicht zusammen. Die Kopfbilder sind entscheidend. Ich muss die richtige Form der Umsetzung finden, so wie es Sinn macht.
Filmstarts.de: „Baby“ hat ein Budget von einer Million Euro. Was erwartest du kommerziell von dem Film?
Philipp Stölzl: Zunächst freue ich mich einfach, dass „Baby“ überhaupt ins Kino kommt. Der Film startet nur mit wenigen Kopien. Viele Leute, die ihn bisher gesehen haben, mögen ihn. Ich hoffe, dass er sich über Mundpropaganda entwickelt. Das ist die einzige Chance, die kleine Independent-Filme haben.
Filmstarts.de: Was ist für dich einfacher? Die Arbeit mit Popstars oder Schauspielern?
Philipp Stölzl: Schauspieler und Popstars sind sich ähnlicher als man denkt. Es sind Leute, die sich gewissermaßen entblößen, sich dem Publikum offenbaren. So gibt es eigentlich keine großen Unterschiede. Ich war durch meine Arbeit beim Theater schon mit dem Umgang mit Schauspielern vertraut. Die Mischung aus schwierig und kindisch sein, gepaart mit sehr viel Charme macht die Arbeit mit Schauspielern und Popstars aus. Dabei sind sie nicht immer so diszipliniert, wie man sich das vorstellt. Am meisten Disziplin hatte jedoch ausgerechnet Alice Dwyer, die zum Zeitpunkt des Drehs 13 Jahre alt war.
Filmstarts.de: Sie kam erst zwei Wochen vor Drehstart an Bord, ist die Stieftochter von Co-Regisseur Johannes Grebert...
Philipp Stölzl: Wir haben ewig lange gecastet. Es war ein Albtraum. Der Film wurde um ein Jahr verschoben, weil die Finanzierung Probleme machte. Dann hatten wir unverschämtes Glück, als wir auf die Idee kamen, Alice zu casten. Sie hatte schon den Fernsehfilm „Anna Wunder“ gemacht, aber zunächst dachten wir nicht an ein 13-jähriges Mädchen. Doch im Film geht sie ohne Probleme für 15 durch. Wir hatten erst Angst, dass „Baby“ dadurch in die Nähe eines Pädophilen-Films rücken könnte. Das wollten wir natürlich auf keinen Fall. Aber es hat alles wunderbar funktioniert.
Filmstarts.de: Wie auch in ihrem zweiten Kinofilm - Hans-Christian Schmids „Lichter“ - zu sehen ist, besitzt Alice Dwyer unglaubliches Talent. War das vor dem Dreh bereits klar?
Philipp Stölzl: Ja, das konnte man beim Casting schon sehen. Sie kann ohne Mühe so viele Sachen auf der Leinwand herstellen, wie ich es mir vorher nicht hätte vorstellen können. Viele Teenie-Darsteller sind einfach nur Typen, die sich selbst spielen. Und die Rolle der Lilli war ja nicht ohne: Sex, Schwangerschaft, Kriminalität... Beim Dreh ist Alice ein Traum. Sie ist fleißig, nett und unkompliziert.
Filmstarts.de: Wie sieht deine Planung aus? Konzentrierst du dich jetzt nur auf Kinofilme oder arbeitest auch weiter für die Werbung und Musikindustrie?
Philipp Stölzl: Ich mache beides. „Baby“ wurde bereits 2002 abgedreht. Seitdem habe ich weiter Werbefilme und Videoclips gedreht. Ich bin ein Set-Mensch, ich muss ständig drehen. Ein Kino-Projekt ist auch in Planung. Ich bemühe mich, einen englisch-sprachigen Genrefilm zu realisieren, der auch im Ausland produziert werden soll. Er spielt in Philadelphia und handelt von einem zeitreisenden Serienkiller. Er hat sehr viele visuelle Aspekte, die mir gefallen. Doch eines habe ich bei „Baby“ gelernt: Ein Film wird erst gemacht, wenn man am Set steht und die erste Klappe fällt...