Er war eine der schillerndsten Figuren des Profi-Fußballs. Die Haare trug er immer etwas länger als alle anderen, fuhr die schnellsten Autos, war der erste Rebell am Ball: Günther Netzer, Rasenregisseur und Standfußballer in einer Person. Ohne Zweifel gilt der Superstar der 70er Jahre als einer der besten deutschen Spielmacher aller Zeiten. Und sein geniales Spiel kam „aus der Tiefe des Raumes“, wie es FAZ-Feuilletonist Karl Heinz Bohrer einst legendär beschrieb. Theater-Regisseur Gil Mehmert stellt den Kultkicker in den Mittelpunkt seiner liebenvollen, aber langatmigen Groteske „Aus der Tiefe des Raumes“. Denn die Wahrheit über Netzer sieht laut Mehmert ganz anders aus...
Hans Günter (Arndt Schwering-Sohnrey) ist ein unscheinbarer, schüchterner junger Mann, der in den 60er Jahren nur so richtig aufblüht, wenn er seinem Hobby nachgehen kann: dem Tippkickspielen. Dieses Tischfußballspiel, bei dem mit kleinen Metallfiguren ein vieleckiger Ball auf einem grünen Filzfeld ins Tor befördert werden muss, hat es dem Autolackierer angetan. Bei der Vorausscheidung zu den Westdeutschen Meisterschaften trifft er die Fotografin Marion (Mira Bartuschek). Nach einer leidenschaftlichen Nacht geschieht das Unfassbare. Hans Günters eigens entworfener Top-Tippkickspieler mit der Nummer 10 wird zum Leben erweckt. Aus einer eigentümlichen Ursuppe aus Fotochemikalien und einigen anderen Zutaten entsteigt er am nächsten Morgen Marions Badewanne und entwickelt ein Eigenleben. Hans Günter sammelt ihn auf, weiß aber nicht so recht, was er mit dem Pappkameraden anfangen soll. Sein hölzern wirkender Freund (Eckhard Preuß) erweist sich schnell als begnadeter Tippkick-Trainer. Doch das ist ihm bald nicht mehr genug. Durch Zufall stößt er zur Niederrheinischen Bezirksauswahl und findet dort neue Kameraden wie Hans-Hubert, Jürgen und Wolfgang. Hans Günters Beziehung zu Marion leidet jedoch. Er verheimlicht ihr die Existenz von Günter, so nennt er ihn, und bringt sich damit in persönliche Schwierigkeiten.
Eine der legendärsten Aktionen in der deutschen Fußballgeschichte eignete sich 1973 im DFB-Pokalfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln. Gladbachs Trainer Hennes Weisweiler ließ seinen Star Günther Netzer gegen den Erzrivalen auf der Bank schmoren, weil er seinen Wechsel zu Real Madrid bekannt gegeben hatte. Ohne Absprache mit dem Coach wechselte sich Netzer in der Verlängerung selbst ein und erzielte kurze Zeit später den 2:1-Siegtreffer für Gladbach. Dieses sensationelle Tor, Netzer hämmerte den Ball mit dem linken Fuß trocken in den linken oberen Torwinkel, gilt neben Helmut Rahns 3:2 im WM-Finale der Deutschen 1954 gegen Ungarn und Gerd Müllers 2:1 im WM-Endspiel 1974 gegen Holland zu den drei berühmtesten Toren der DFB-Geschichte.
Von dieser Exzentrik und Extravaganz Netzers hat Regisseur Gil Mehmert wenig. Der stille und leise Arbeiter Jahrgang 1965 hat sich beim Theater einen Namen gemacht, inszenierte unter anderem an Bühnen in München und Bochum. Seit frühester Kindheit ist er Fußballfan und Anhänger von Borussia Mönchengladbach. Wie Mehmert auf die skurrile Idee kam, die Theorie aufzustellen, Fußballstar Günther Netzer sei aus einer Tippkickfigur entsprungen, ist nicht überliefert, aber die Groteske dieser Spinnerei hat einen unschlagbaren Charme. Doch das Grundproblem von „Aus der Tiefe des Raumes“ ist ein anderes. Die Idee hätte als Vorlage für einen wundervollen Kurzfilm getaugt, aber leider reicht das Potenzial nicht ansatzweise für 88 Leinwandminuten. Genauso hölzern wie Eckard Preuß’ Tippkick-Netzer kommt auch die Geschichte daher. Das ist alles liebevoll und nett im Stil der 60er Jahre inszeniert, aber die Story packt einfach nicht und plätschert teilweise vor sich hin.
Mit einer Rahmenhandlung versucht Mehmert, der auch das Drehbuch schrieb, seinem Unsinn Sinn einzuhauchen. Die Einschübe über den alten, krebskranken Hans Günter, gespielt von Karl Korte, im Krankenhaus hemmen den ohnehin schon zähen Erzählfluss von „Aus der Tiefe des Raumes“. Eine kurze Sequenz am Anfang und Ende hätten gereicht, um die Prämisse des Geschichten erzählenden alten Mannes zu verdeutlichen. Parallel zur Erweckung und Entwicklung des Tippkickmännchens zieht Mehmert die Liebesgeschichte von Hans Günter und Marion auf, doch diese kocht auch nur auf halber Flamme. Das größte Vergnügen an dem Film sind dessen liebenvollen, kleinen Details, die aber praktisch nur Fußballfans zugänglich sind. Günters Zimmerkamerad bei der Auswahlmannschaft heißt Hans-Hubert („Du kannst mich auch Berti nennen“) und ist ein Streber, wie er im Buche steht. Aber auch Jürgen (Grabowski) und Wolfgang (Overath) sind vertreten.
Mehmert präsentiert seine Märchen-Groteske mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit. Aber trotz aller Sympathie für die Idee und die liebevolle Hommage an Günther Netzer funktioniert „Aus der Tiefe des Raumes“ als Film nicht über die Spielzeit von anderthalb Stunden. Es sind die stillen und leisen Töne, die Mehmert seinem Naturell entsprechend anschlägt. Leider geht dem Film damit aber auch der Witz abhanden. Ab und an entlocken die Schauspieler dem Publikum ein Schmunzeln, aber viel mehr auch nicht. Ansatzweise kann Christoph Maria Herbst („Der Wixxer“, „Traumschiff Surprise – Periode 1“), der einzig bekannte Name auf der Besetzungsliste, bei seinem Kurzauftritt als Trainer Schwung, Frische und Witz einbringen. Doch das ist nur ein Strohfeuer. Arndt Schwering-Sohnrey („Good Bye, Lenin!“), Eckhard Preuß („Cascadeur“) und Mira Bartuschek („Ganz und gar“, „Crazy“) fehlen Herbsts Attribute, ihr Spiel leidet unter der schwerfälligen Inszenierung, sie vermitteln aber wenigstens die Sympathie ihrer Figuren. Günther Netzer, der dem Filmemacher über seinen Anwalt erklären ließ, keine Einwände gegen das Projekt zu haben, war eine Reaktion über den fertigen Film übrigens nicht zu entlocken...