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    Allein
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Allein
    Von Nicole Kühn

    Das Leben ist eine Party! Die Tage schleppen sich übermüdet dahin, während die Nächte mit aufgedrehten Beats, Sex und Rausch locken. Wie Elementarteilchen schwirren die Menschen durch die gestylte Welt, prallen in einer gewaltigen Energieexplosion aufeinander und stoßen sich gerade nach der Entladung wieder schnell voneinander ab. Ein Leben, in dem ein intensiver Moment unweigerlich vom nächsten übertrumpft wird, prall gefüllt mit aufregenden Glücksgefühlen. Oder etwa doch nicht?

    Vor diese Frage sieht sich Maria (sehr intensiv: Lavinia Wilson) gestellt, als sie Jan (Maximilian Brückner) kennen lernt. Das attraktive Mädchen hat sich scheinbar nobel eingerichtet im ihrem freizügigen Lebensstil. In den Club schleppt sie ohne Mühen die Männer ab, hat ekstatischen Sex mit ihnen und verschwindet, bevor aus dem Lover eine Bekanntschaft werden kann. Nicht einmal die Namen merkt sie sich. Für den Alltagsgebrauch hat sie Wolfgang (Richy Müller), einen abgeklärten Mittvierziger. Er kommt und geht wann er will, nimmt ihre Launenhaftigkeit gelassen und spart sich eine Diskussion, wenn sie darauf besteht, dass es zwischen ihnen ohnehin nur um Sex gehe. Das ist die einzige Art und Weise der zwischenmenschlichen Begegnung, die Maria zumindest in Bezug auf Männer beherrscht.

    Und dann kommt Jan daher: unspektakulär, ernsthaft studierend, schüchtern und einfühlsam, aber immer geradlinig. Dem ungeschickt-heftigen Manöver zum Sex am ersten Abend weicht er peinlich berührt aus. Durch diese für sie völlig neue Erfahrung wird Marias ausgeklügeltes System gehörig durcheinander geschmissen. Das schöne Gefühl der Geborgenheit beruhigt sie nur kurzfristig. Viel stärker ist die zermürbende Beunruhigung, die es in ihr auslöst: überall wittert sie Gefahr, sieht dieses wertvolle Gefühl von allen Seiten bedroht. Folgerichtig sucht sie regelrecht nach „Beweisen“ für ihre Vermutung, nicht um ihrer selbst Willen geliebt zu werden. Da ihr in sich gefestigtes Umfeld dies nicht so einfach macht, entwickelt sie Strategien mit zerstörerischer Kraft, um Situationen zu schaffen, die jede zwischenmenschliche Bindung einer Zerreißprobe aussetzen.

    Der junge Regisseur und Drehbuchautor Thomas Durchschlag beleuchtet mit seinem Drama „Allein“ ein Phänomen, mit dem viele Zuschauer schon in Berührung gekommen sein dürften. Das, was seine verzweifelt lebens- und liebeshungrige Protagonistin im Extrem durchlebt, ist weit verbreitet in der durchgestylten, auf gute Laune getrimmten und dem Kult des ewig Jugendlichen ergebenen Lifestyle der Postmoderne. Die Freiheit, alles tun oder auch lassen zu können, eine unendliche Menge von Optionen für das eigene Leben zu haben, sprengt die Grenzen des Ich. Die Unsicherheit über die eigene Identität (die reale, aber auch die gewollte) ist groß, das Fehlen greifbarer Familienbindungen und die ständige Aufforderung, authentisch zu sein und sich selbst zu verwirklichen, tragen bei zur oft beklagten Schnelllebigkeit mitsamt der Angst davor, sich auf irgendetwas wirklich einzulassen und damit irgendwo anzukommen. Der Film zeigt anhand der Symptome der als Borderline bekannten Krankheit die Mechanismen dieses immerwährenden Drahtseilaktes nachvollziehbar auf. Ganz bewusst fällt der Ausdruck „Borderline“ weder im Film noch im Titel, da zum einen die Krankheit sich auf sehr viele verschiedene andere Weisen als die im Film geäußerte zeigen kann und zum anderen bei den dargestellten Verhaltensweisen die Grenzen zwischen „normal“ und „krankhaft“ fließend sind. Sehr genau und ohne Parteinahme beobachtet Durchschlag den Alltag seiner Figuren. Hinter der Fassade der grenzenlosen Freiheit werden Abhängigkeiten sichtbar, deren Ursachen kaum zu durchschauen sind. Eine Offenbarung ist dabei das Spiel von Lavinia Wilson. Ihre zarten Gesichtszüge werden in sekundenschnelle hart, ihre Bewegungen strahlen bei aller Zerbrechlichkeit des Körpers eine trotzige Energie aus, durch die pure Angst als Ursache hindurch scheint. Dem Sturm an Emotionen, die sich mal lautstark Bahn brechen, mal hinter undurchdringlicher Coolness verstecken, setzt Maximilian Brückner eine souveräne Konstante entgegen. Selbst in Szenen, in denen man seiner Figur die fast stoische Ruhe und Unbedingtheit seiner Liebe kaum mehr glauben mag, überzeugt seine Darstellung vorurteilsfreier Naivität und Neugier auf sein Gegenüber. Das dichte Schweigen in Wort und Tat, das Wilson konsequent ausspielt, durchbricht Brückner mit stillen, bestimmten Aktionen. Die Falle des Besserwissers umgeht seine Figur dabei meist geschickt.

    Jede Figur, jede Handlung bringt die Geschichte vorwärts und trägt damit Bedeutung, ohne dass das Ganze wie am Reißbrett entworfen wirkt. Mit wenigen Indizien werden auch die Nebenfiguren so charakterisiert, dass man eine Vorstellung von deren Persönlichkeit bekommt. Von Interesse ist dabei nur die Aktualität ihres Zusammentreffens, tiefenpsychologische Hintergründe werden nur angedeutet, ohne als Erklärungsmuster herhalten zu müssen. Hier macht sich eine solide Arbeit am Drehbuch bemerkbar, mit der Durchschlag nach drei Kurzfilmen zeigt, dass er auch die Stoffmenge für einen abendfüllenden Spielfilm mit Detailgenauigkeit beherrscht. Angenehm, dass er die ausführlichen Recherchen nicht dazu benutzt, nun für jedes Problem postwendend die Lösung parat zu haben, sondern vielmehr diejenigen Fragen fokussiert, die interessant sind.

    Konzentriert auf einen Grundkonflikt findet der Film den richtigen Rhythmus, um an keiner Stelle langweilig oder anstrengend zu werden, auch wenn die Thematik nicht gerade die leichteste ist. Das liegt nicht zuletzt an der Ästhetik, die in weiten Teilen sehr vertraut ist und nur an wenigen Stellen die Bildkomposition selbst in ihrem nichtlinearen, untextlichen Code sprechen lässt. Der Verzicht auf den stilistischen Einsatz filmischer Möglichkeiten tut dem Film keinen Abbruch, er versperrt ihm jedoch den Weg zum richtig großen Kinoerlebnis. Gerade die in Worten kaum fassbare Innenwelt der Hauptfigur hätte dem Betrachter durch visuelle Ausdrucksformen noch näher gebracht werden.

    Bis auf wenige Ausreißer sind die Figuren psychologisch so stimmig angelegt, dass eine Identifikation mit ihnen oder zumindest das Nachvollziehen ihrer Verhaltensweisen leicht fällt. Die wenigen gezeigten Extreme schaden zwar nicht, weil immer vor dem Überdramatisieren noch die Kurve genommen wird und die Kamera kaum einen voyeuristischen Blick zulässt. Die Energie der Geschichte hätte jedoch auch beim Weglassen dieser Aufreger und Unwahrscheinlichkeiten kaum an Wucht eingebüßt. Dem Film gelingt es, nahe an der gesellschaftlichen Realität eine persönliche Geschichte nachvollziehbar und glaubwürdig zu erzählen und dabei doch mehr zu zeigen als das pure So-Sein seiner Akteure.

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