Die unsterbliche Liebe ist meist die, die unerfüllt bleibt. Das erzählt uns Florian Gallenbergers Liebesdrama „Schatten der Zeit“ nicht zum ersten Mal, dafür jedoch in einer Umgebung, die abschreckend und anziehend zugleich wirkt.
Im Indien vor der Unabhängigkeit beginnt sich eine zarte Liebe zwischen dem 11-jährigen Ravi (Sikandar Agarwal) und der kleinen Masha (Tumpa Das) anzubahnen. Der selbstbewusste und zielstrebige Junge weiß eines ganz genau: Eines Tages wird er seinen mit einem Hungerlohn abgegoltenen Knochenjob in der Teppichfabrik hinter sich lassen und ein freier Mann sein. Nachts übt er Teppichknüpfen und entwickelt so großes Geschick, dass er dem um seinen Lohn feilschenden Geschäftsführer bereits stolz die Stirn bieten und ein passables Gehalt aushandeln kann. Mit seinem klaren Verstand und seinem Mut hilft er Masha mehr als einmal aus der Patsche. Als der Geschäftsführer sie an einen Mädchenhändler verhökern will, trifft Ravi eine schwerwiegende Entscheidung: Statt sich selbst kauft er seine Freundin frei und schickt sie mit wenig Geld nach Kalkutta. Masha ist nun frei, doch in dem Moloch Kalkutta ist sie damit zugleich Freiwild. Zuflucht findet sie bei einer strengen Bordellbesitzerin, bei der sie als erotische Tänzerin Karriere macht. Über Jahre hinweg hält sie treu ihren mit Ravi verabredeten Pakt ein, bei jedem Vollmond den größten Shiva-Tempel der Stadt zu besuchen, um sich dort wieder vereinen zu können. Eines Tages taucht Ravi (Prashanth Narayanan), inzwischen erfolgreicher Teppichhändler, wirklich dort auf, doch beide verpassen sich. Durch seltsame Fügungen des Schicksals treffen sie wiederum Jahre später erneut aufeinander – beide verheiratet mit anderen Partnern. Trotz der seelischen Wunden auf beiden Seiten können sie ihren Gefühlen nicht widerstehen und beginnen eine leidenschaftliche Affäre.
Eigentlich sollte Oscar-Preisträger Gallenberger (Kurzfilm-Oscar für „Quiero Ser“) für Produzent Helmut Dietl eine Berlin-Story für seinen ersten abendfüllenden Spielfilm liefern. In seiner Schreibblockade kam ihm ein Radiointerview über ein indisches Fabrikarbeiter-Mädchen zu Hilfe und fertig war die Liebesgeschichte in Indien. Ganz so einfach war es natürlich nicht. Eine Reise an den Ort des Geschehens war nötig, um einen realistischen Rahmen für die universelle Love Story zu schaffen. Hilfreich für die Formalitäten mit Zensurbehörde, für Drehgenehmigungen und die Zusammenarbeit mit einem Team aus zwei komplett verschiedenen Kulturkreisen waren die guten Kontakte für den vor Ort agierenden Produzenten Norbert Preuss und die Offenheit und Begeisterung für das Projekt auf beiden Seiten. Dem Mut, dieses Abenteuer überhaupt gewagt zu haben, gebührt Respekt.
Fast ungewohnt zurückhaltend und intensiv agieren die Schauspieler, die eindrucksvoll belegen, dass indische Filmkunst weit mehr umfasst als Bollywood, das momentan einen Boom im Westen erlebt. Überzeugend transportieren allen voran die beiden Kinderdarsteller Tumpa Das und Sikandar Agarwal die Mischung aus notwendiger Unterwürfigkeit und trotzigem Aufbegehren gegen die Verhältnisse. Zwischen Tannishtha Chatterjee und Prashanth Narayanan sagen die Blicke meist mehr als die Worte. Gerade, wenn sie mit ihrem jeweils anderen Partner zusammen sind wird in ihrer Gestik und Mimik deutlich, dass in ihrem Inneren die Verbundenheit zwischen ihnen Zeit und Raum zu überdauern scheint. Beide Darsteller haben privat einen Hang zur Musik und sind in ihrer Heimat sehr anerkannte Künstler. Selbstverständlich spielt in „Schatten der Zeit“ die Musik eine tragende Rolle. Im ruhigen doch emotional stark aufgeladenen Fluss der Erzählung prägt sie die Stimmungen und trägt den Zuschauer von einer Welle der Gefühle zur nächsten. Zusammen mit der farbenprächtigen und immer mit Bedacht gewählten Bildkomposition von Kameramann Jürgen Jürges lässt sie diese völlig fremde Welt lebendig werden. Für seine Leistung erhielt Jürges den Bayerischen Filmpreis.
Fremd bleiben viele dramaturgische Wendungen der tragischen Geschichte trotz aller sinnlichen Opulenz. Die zugrunde liegende Idee, dass das Schicksal sich oft in Bruchteilen von Sekunden entscheidet, wirkt in der Häufung unglückseliger Umstände gestelzt. In vielen Situationen sind es auch die Figuren selbst, die sich im Weg stehen. Während Ravis Beweggründe nachvollziehbar sind und er eine tragische Rolle in seinem eigenen Leben spielt, ist Masha in sich sehr widersprüchlich angelegt. Einerseits ist sie immer wieder die Verliererin, das schwache und naive Mädchen, das seiner Umwelt hilflos ausgesetzt ist und die selbstlose Hilfe von Verehrern gerne annimmt oder gar erwartet. Andererseits legt sie besonders gegenüber Ravi einen kaum nachvollziehbaren Stolz an den Tag. So scheint es weniger das Schicksal zu sein, das ihr gemeinsames Glück mit Ravi verhindert, sondern die eigene Unfähigkeit, zu verzeihen und miteinander offen zu sprechen. Damit verliert auch ein sozialer Kritikpunkt, den man aus der Geschichte lesen könnte, seine Brisanz: Es ist die Frau, die aus der gescheiterten Liebe nicht nur emotional (das gilt für den Mann gleichermaßen), sondern auch finanziell und sozial geschädigt hervor geht, während er ein gemachter Mann ist. So, wie Masha als Charakter gezeichnet ist, hat sie ihr Scheitern weitgehend sich selbst zuzuschreiben und nicht den angedeuteten sozialen Missständen ihres Landes.
Was bleibt, ist ein Film, der viele Facetten einer fremden Kultur aufscheinen lässt, ohne wirklich einen Zugang zu dieser Kultur zu eröffnen. Eine Identifikation mit den Figuren wird gerade durch die übermäßig beschworene Macht des Schicksals, die an vielen Stellen konstruiert wirkt, schwer gemacht. Letztlich bleibt die emotionale Betroffenheit des Zuschauers an der wunderschönen Oberfläche der sinnlichen Eindrücke hängen und der Kulturaustausch im Produktionsprozess des Films.