Helge Schneider bringt es wieder einmal, wie so oft, auf den Punkt: „Die schwierigste Zeit im Leben eines Mannes ist die Pubertät, die zweitschlimmste ist die danach.“ Frauen geht es da bestimmt nicht viel besser... wenn der Körper voller Hormone gepumpt wird, die diesen verändern, das Interesse am anderen oder gleichen Geschlecht zunimmt, kurz: die Zeit, in der sich schlicht alles verändert und eine andere Bedeutung bekommt, ist wohl diejenige, die uns alle am meisten prägt. Nachdem in diesem Jahr Gus van Sant mit Paranoid Park einen männlichen Jugendlichen ins Visier nimmt, kontert „Water Lilies“ von Céline Sciamma quasi von weiblicher Seite. Mit einem ähnlich intensiven und nahen Blick inszeniert Sciamma das kleine Drama vom Erwachsenwerden für die große Leinwand und findet dabei eine ganz eigene filmische Ausdrucksweise.
Die fünfzehnjährige Marie (Pauline Acquart) träumt davon, im Team der Synchronschwimmerinnen aufgenommen zu werden. Ihre beste Freundin Anne (Louise Blachère) ist bereits in einer der Gruppen dabei, obgleich sie aufgrund ihres leicht adipösen Aussehens gar nicht so glücklich darüber scheint. Annes größter Wunsch ist es vielmehr, so schnell wie möglich ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Dennoch unterstützt sie Marie bei ihrem Vorhaben. Als diese erfährt, dass es noch Monate dauert, bevor sie am Training teilnehmen kann, sucht sie nach einer anderen Möglichkeit, ihr Ziel so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen. Dazu macht sie sich an die schöne Floriane (Adèle Haenel) heran, die Kapitänin und Star der Fortgeschrittenen-Gruppe ist. Sie gehen einen Deal ein. Floriane schleust Marie ins Schwimmtraining, diese erfüllt Floriane im Gegenzug einen Wunsch ihrer Wahl. Das kommt Floriane wiederum ganz recht, da sie eine Ausrede für ihre Eltern braucht, um sich heimlich mit Männern zu treffen. Dazu nutzt sie nun Marie aus. Nach einer Weile entsteht eine intime Nähe zwischen den beiden Mädchen, während sich Marie und Anne immer mehr voneinander entfernen.
Auch wenn mit Larry Clarks Kids und Ken Park alle Tabus im Zeigen von sexuellen Ausschweifungen Jugendlicher gebrochen scheinen, kann sich „Water Lilies“ in gewisser Weise in diese Folge von Filmen einreihen. Zwar kommt es hier weniger darauf an, die Grenzen dessen zu erweitern, was bisher in der Darstellung möglich war. Vielmehr wird hier versucht, neue Formen zu finden, die inneren Vorgänge von Heranwachsenden, die ihre Sexualität entdecken, sichtbar zu machen. Dies funktioniert jedoch glücklicherweise nicht über Sprache. Die Dialoge sind auf das allernötigste reduziert und wirken auf der Oberfläche eher der banalen Alltäglichkeit geschuldet. Dass unter dieser Schicht das Thema der möglichen Homosexualität der fünfzehnjährigen Protagonistin schwelt, wird von Beginn an nicht verheimlicht und macht einen großen Teil der permanenten Spannung, die im Film spürbar ist, aus.
Dem entgegen steht die kindliche Unbeschwertheit, die sich bloß in wenigen Szenen einschleichen darf, besonders wenn es um die zwei Freundinnen Marie und Anne geht. Ein interessanter Kniff, den die Regisseurin bei der Besetzung und beim Drehbuch vornimmt, ergänzt die Thematik: In „Water Lilies“ kommen fast ausschließlich Jugendliche vor. Die Elternwelt bleibt ebenso ausgeschlossen, wie andere Erwachsene nur kleine Nebenrollen, die bloße Funktionalität erfüllen, bekommen. Die Schauspielerriege gefällt gerade wegen dieses Tricks besonders gut. Denn selbst eventuelle minimale spielerische Schwächen wirken immer noch authentisch, da sie der allgemeinen Unsicherheit im Verhalten von Heranwachsenden zugeschrieben werden können.
Der Titel des Films – „Water Lilies“ – bezeichnet indes zweierlei: Zum einen rekurriert er ganz einfach auf die Welt der Synchronschwimmerinnen, die auf der Wasseroberfläche ähnlich schöne Formen hervorzubringen wissen, wie die Pflanzenwelt. Doch zum anderen kann man auch die kulturgeschichtliche Bedeutung der Lilie auf das Geschehen im Film übertragen. Die Lilie selbst steht nämlich mit einer ambivalenten Symbolik da. Einerseits versinnbildlicht diese Unschuld, Reinheit und Schönheit, verweist aber andererseits auf Tod und Vergänglichkeit. Da in „Water Lilies“ nicht gestorben wird, tritt diese zweite Seite des Symbols nur gemäßigt auf. Eine der ersten Choreographien der Schwimmerinnen, begleitet von den „Dies irae“ (Tagen des Zorns) aus Mozarts Requiem, macht dies deutlich und markiert damit die einsetzende starke, pubertäre Gefühlswelt, die in keiner der Figuren völlig und rein zum Tragen kommt. Jedes der Mädchen hat dunkle Flecken auf der weißen Seele.
Die musikalische Gestaltung, die einen enormen Stellenwert im Film einnimmt, unterscheidet sich jedoch von dem kraftvoll-emotionalen Teil des Requiems. Vielmehr werden von Jean Baptiste de Laubier, alias „Para one“, stille, nachdenkliche Töne in Anschlag gebracht. Musik ist besonders deswegen in „Water Lilies“ von so großer Bedeutung, da über diese viel von dem kommuniziert wird, was in den Dialogen „fehlt“. Die so entstehende psychologische Tiefendimension wird von der ruhigen, intimen Regie- und Kameraführung ergänzt. Auf diese Weise entsteht ein stiller, intensiver Film über das Erwachsenwerden, Identitätsfindung und echte Freundschaft. Dass Regisseurin Céline Sciamma mit „Water Lilies“ erst ihren Debütfilm präsentiert, dessen Drehbuch sie als Abschlussarbeit für die Filmschule „La Femis“ geschrieben hat, lässt auf weitere Arbeiten von diesem Kalieber hoffen. Ihr Erstling lief bereits erfolgreich auf mehreren namhaften Festivals, wobei er auf den kleineren – Carbourg und Prix Louis Delluc – sogar Preise für sich verbuchen konnte.