Jahr für Jahr kommen um die 400 Filme in die deutschen Kinos – zumindest laut der offiziellen Startlisten. Wie viele von ihnen tatsächlich den Weg in die Säle der Multiplexe, der Innenstadt- und der Programmkinos jenseits von Berlin finden, ist natürlich eine andere Frage. Zunächst einmal ist die an sich ungeheure Zahl entscheidend: 400 Filme – so oft wird kaum jemand im Jahr ins Kino gehen. Doch bei einem genaueren Blick auf die Startlisten fällt etwas auf: Trotz des enormen Angebots bleibt der Eindruck bestehen, dass die entscheidenden Entwicklungen im Weltkino einfach an der deutschen Kinolandschaft vorbeigehen. Gerade die Arbeiten der asiatischen und europäischen Filmemacher, die auf Festivals regelmäßig zu den Eckpfeilern der modernen Filmkunst erklärt werden, finden hier kaum einmal einen Verleih. Wer sich für die Werke von Hong Sang-soo und Jia Zhang-ke, von Tsai Ming-liang und Hou Hsiao-hsien interessiert, muss sich auf dem internationalen DVD-Markt umsehen. Das gleiche gilt auch für die Filme zahlreicher amerikanischer Independents und für die der großen (Alt-)Meister des europäischen Kinos. Insofern ist es fast schon eine Sensation, dass Claire Denis’ betörend stilles Familiendrama „35 Rum“ nun in Deutschland herauskommt. Schließlich wollte sich offenbar kein Verleiher ihrer vorigen drei Arbeiten annehmen. Dabei zählen „Trouble Every Day“, „Vendredi soir“ und „Der Feind in meinem Herzen“, wie „L’intrus“ in der deutschen Fernsehausstrahlung hieß, zu den bemerkenswertesten Arbeiten des neueren französischen Kinos.
Lionel (Alex Descas) arbeitet als Lokführer im Großraum Paris. Seit Jahren fährt er die Pendler aus dem Umland der Metropole in die Stadt und wieder zurück. Den Blick aus der Lok auf die vor ihm liegenden Schienen und die Häuser, Straßen oder Bäume zu ihren Seiten liebt er ganz offensichtlich. In der Welt vor ihm herrschen eine Ordnung und eine Klarheit, die Entscheidungen überflüssig machen. Außerdem bleibt auf seinen Strecken immer alles mehr oder weniger gleich. Diese Beständigkeit ist das Ideal, auf das er auch sein privates Leben ausrichtet. Wenn Lionel am Abend nach Hause in seine Vorstadt-Wohnung kommt, wartet Joséphine (Mati Diop) dort schon auf ihn. Eine ganz und gar bedingungslose Liebe verbindet die beiden nicht nur, sondern schweißt sie regelrecht aneinander. In dieser außergewöhnlichen Vater-Tochter-Beziehung bleibt für andere Menschen kaum ein Platz. Da kann sich Nachbarin Gabrielle (Nicole Dogue), eine Taxifahrerin, mit der Lionel einmal eine Beziehung hatte, noch so sehr anstrengen – die gemeinsamen Zeiten sind vorüber. Und auch Noé (Grégoire Colin), der zusammen mit seiner übergewichtigen Katze in der Dachwohnung des Hauses lebt, scheitert immer wieder bei seinen Versuchen, Joséphine näherzukommen.
„35 Rum“ als Familiendrama zu bezeichnen, ist prinzipiell betrachtet sicher nicht falsch. Schließlich erzählt Claire Denis von einer extrem intensiven Familienbeziehung, unter deren harmonischer Oberfläche mehr als nur ein Konflikt gärt. Trotzdem führt eine solche Klassifizierung unweigerlich in eine Sackgasse, wenn nicht sogar in die Irre. Denis, die einst als Regieassistentin mit Jim Jarmusch und Wim Wenders zusammengearbeitet hat, ist als Regisseurin nämlich von Anfang an einen sehr eigenen Weg gegangen, wobei es aber trotzdem immer auch klare Bezugspunkte gab, etwa feministische und post-koloniale Ideen und Theorien, die so etwas wie das intellektuelle Fundament ihres Schaffens waren. Sie spielen ohne Frage immer noch eine gewichtige Rolle in ihrem Denken. Es ist eben alles andere als ein Zufall, dass Denis die Studentin Joséphine ausgerechnet in einem Seminar zeigt, das sich mit Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Ersten und der Dritten Welt beschäftigt. Genauso gerät die in ihrem eigenen Handeln anscheinend gänzlich unpolitische Joséphine nicht von ungefähr mitten in eine Demonstration von Studenten, die gegen die Schließung der anthropologischen Fakultät der Universität protestieren. Doch das sind kleine Details, kurze Hinweise auf das überaus komplexe Innen- und Außenleben der Figuren. Wer – was bei Denis’ Werken der 90er Jahre noch möglich war – aus ihnen heraus eine ideologische Deutung dieses Films ableiten will, wird letztlich nicht sehr weit kommen. Die Zeiten, in denen Claire Denis’ Kunst mit intellektuellen Hilfsmitteln und den neuesten akademischen Theorien beizukommen war, sind vorbei. Mittlerweile dreht sie Filme, die ganz und gar einzigartig sind und nach einem Publikum verlangen, das in gleichem Maße intuitiv wie reflexiv auf sie reagiert.
Natürlich verrät Joséphines Desinteresse an der Schließung der Anthropologie etwas, schließlich hat sie dort selbst Seminare besucht. Und auch die Gleichgültigkeit, mit der sie auf ihren Kommilitonen Ruben reagiert, spricht Bände. Seine vorsichtigen Annäherungsversuche, zunächst noch an ihrem Arbeitsplatz in einem Plattenladen, später dann bei ihr Zuhause, nimmt sie irgendwie hin. Aber wirkliches Interesse gibt es von ihrer Seite nicht. Letztlich sind diese kleinen Szenen, in denen Vertreter der Außenwelt versuchen, in die geschlossene Zweierbeziehung von Vater und Tochter einzudringen, eher peripher. Im Zentrum des Films stehen alleine die Blicke, die zwischen Lionel und Joséphine, zwischen ihm und Gabrielle sowie zwischen ihr und Noé hin und her gehen. Claire Denis hat den ganzen Film aus eben diesen Blicken komponiert. Was in ihnen zum Ausdruck kommt, lässt sich aber nur in einem geringen Maße sprachlich fassen. Natürlich spricht eine gewisse Eifersucht aus dem Blick, mit dem Lionel beobachtet, wie seine Tochter und Noé zusammen tanzen. Doch da ist noch vielmehr: eine verborgene oder zumindest unterdrückte Freude, schließlich weiß er genau, dass Joséphine bald ihren eigenen Weg gehen muss, außerdem wohl auch Erinnerungen an eine Zeit, in der er so getanzt hat.
In dieser Vieldeutigkeit offenbart sich die ganze Meisterschaft des Films, nicht nur die von Claire Denis’ Inszenierung, sondern auch die ihrer vier Hauptdarsteller. Obwohl jeder von ihnen ganz zurückhaltend agiert, Alex Descas’ und Mati Diops Spiel bewegt sich sogar schon an der Grenze zum Stoischen, gelingen ihnen außergewöhnlich komplexe Charakterporträts. So mischen sich in Gabrielles Beharrlichkeit – sie ignoriert jede Zurückweisung durch Lionel und versucht es einfach weiter – Masochismus und Hoffnung. Es ist Wahnsinn, dass sie nicht aufgibt und sich nach einem anderen umsieht, aber trotzdem verdient sie die höchste Bewunderung. Liebe ist für Claire Denis der einzige Schutz, den Menschen finden können. Aber sie kann eben auch unendlich schmerzen.
Claire Denis war immer schon eher eine Poetin des Kinos als eine Erzählerin. Das Geschehen entwickelt sich in ihren Filmen nicht im klassischen Sinne gradlinig, sondern wird immer wieder durch Sprünge und Auslassungen zu etwas Fragmentarischem, dem der Zuschauer nachspüren muss. Das Licht, das eine Szene erhellt, und die Farben, die es offenbart, sind von nachhaltigerer Bedeutung als die Ereignisse, die sich vor und in ihnen abspielen. Und so nimmt Claire Denis selbst den dramatischsten Geschehnissen, etwa dem Tod eines von Lionels Freunden, alles Dramatische. Das, worum andere Filmemacher ganze Epen konstruieren würden, blendet sie einfach aus und konzentriert sich stattdessen auf das vermeintlich Gewöhnliche, auf eine Tochter, die einen Reiskocher kauft, und einen Vater, der am gleichen Tag auch einen mitbringt. Oder auf kleine, banale Zwischenfälle wie eine Autopanne, die dazu führt, dass vier Menschen ein Konzert verpassen und eine seltsam magische Nacht in einem Restaurant verbringen, das eigentlich schon geschlossen hatte. Es sind diese Momente, in denen das Leben kristalline Formen annimmt und zu Kunst wird. Erklärungen sind angesichts dessen ganz und gar überflüssig. So muss Lionel auch nicht erklären, was es mit den 35 Rum auf sich hat, die er schließlich in der letzten Szene des Films doch noch trinkt.