Ist Hollywood nach Horror zumute, wird fieberhaft nach deutschen Regisseuren gefahndet. Zu dieser Vermutung könnte zumindest der geneigte Genrefan kommen, wenn er die Gruselfilme betrachtet, die in den vergangenen Jahren so auf den Markt geworfen wurden. Steht das Remake eines Klassikers an, ist der Frankfurter Marcus Nispel (The Texas Chainsaw Masacre Freitag, der 13.) meist nicht fern. Der Berliner Martin Weisz durfte das Sequel The Hills Have Eyes 2 inszenieren. Wird es psychologischer, stehen der gebürtige Münchner Mennan Yapo (Die Vorahnung) oder der Stuttgarter Robert Schwentke (Flightplan) bereit. Was aus deutscher Sicht eigentlich positiv zu bewerten wäre, fällt bei der Analyse der größtenteils enttäuschenden Arbeiten allerdings eher unerfreulich aus. Häufig haben die deutschen Filmemacher mit den für sie fremden Produktionsbedingungen zu kämpfen und können den nach dem Baukastenprinzip zusammengeschusterten Werken nicht ihren Stempel aufdrücken. Am schlimmsten hat es dabei den Hamburger Oliver Hirschbiegel erwischt. Nach den Querelen um sein starbesetztes, aber brutal geflopptes Sci-Fi-Remake Invasion kehrte der versierte Filmemacher (Das Experiment) den USA so schnell wie möglich den Rücken. Ganz so schlimm erging es Christian Alvart, dem jüngsten Neuzugang auf Hollywoods-Horrorbesetzungscouch beim Dreh seines Grusel-Thrillers „Fall 39“ nicht. Doch auch dem Schöpfer des viel beachteten Psychoschockers Antikörper misslingt trotz aller handwerklichen Versiertheit der Versuch, aus einem stereotypen Plot mehr Kreativfunken herauszuschlagen als seine Landsmänner zuvor.
Die gestresste Sozialarbeiterin Emily Jenkins (Renée Zellweger) hat ein feines Näschen dafür, wenn in Familien etwas nicht stimmt. Und „Fall 39“ sieht genau danach aus. Denn die Eltern der zarten, zehnjährigen Lilith (Jodelle Ferland) wirken bei ihrem Pflichtbesuch nicht gerade einladend. Leichenblass stammelt Mutter Margaret (Kerry O’Malley), dass bei ihnen alles in Ordnung sei, auch wenn es überhaupt nicht danach aussieht. Ihr heruntergekommener Ehemann Edward (Callum Keith Rennie) bleibt hingegen völlig stumm und mustert die Sozialarbeiterin nur mit einem abschätzigen Blick. Als wäre diese ablehnende Haltung nicht schon verdächtig genug, flüstert Lilith der schockierten Emily in einem unbeobachteten Moment auch noch ins Ohr, dass ihr Vater sie „zur Hölle schicken will“. Ohne Beweise für eine potentielle Gewalttat sind Emily trotz aller Bemühungen die Hände gebunden. Als sie aber einen Anruf von der völlig verängstigten Lilith erhält, handelt die Sozialarbeiterin sofort. Gemeinsam mit dem befreundeten Polizisten Mike Barron (Ian McShane) dringt sie in die Wohnung der Sullivans ein. Und sie kommt keine Sekunde zu früh: Denn Lilith befindet sich bereits im Backofen ihrer Eltern. Mit Mikes Hilfe können die Sullivans überwältigt und Lilith gerettet werden. Das traumatisierte Mädchen findet bei Single Emily bald ein neues Zuhause. Endlich scheint für Lilith ein Happy End greifbar nahe - zumindest bis ein Junge aus ihrer Therapiegruppe seine Eltern bestialisch ermordet, was neue Fragen aufwirft...
Nicht nur Horrorexperten wissen bei „Fall 39“ bereits nach wenigen Minuten, wohin der Hase läuft. Zu vorhersehbar sind die falschen Fährten eingestreut, zu offensichtlich verbirgt die unschuldig dreinblickende Lilith etwas. Hat der Zuschauer erst einmal die Tatsache verdaut, dass Alvarts Reißer schamlos im Fahrwasser von Das Omen mitschwimmt und mal wieder das Böse im Kind zu ergründen sucht, lässt sich „Fall 39“ aber durchaus goutieren. Zwar mag Alvart auf die genreüblichen, abgenutzten Soundschockeffekte nicht verzichten, aber der – bis auf die Hauptdarstellerin - solide Cast, die stimmige Kameraführung und die überzeugende Spannungsdramaturgie wissen diese Schwäche auszugleichen.
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Leider wirkt Oscarpreisträgerin Renée Zellweger (Bridget Jones, New In Town) in ihrem zweiten Horrorausflug (Texas Chainsaw Massacre: Die Rückkehr) merklich fehl am Platz. Die unausgegorene Rolle der psychisch labilen und kinderlosen Sozialarbeiterin will nicht zu ihrer süßlich-stereotypen Mimik mit den stets zusammengekniffenen Augen passen. Die Schau stielt ihr hier deutlich die junge Jodelle Ferland mit ihrem nuancierten Wechselspiel zwischen trauriger Verletzlichkeit und eiskalter Boshaftigkeit. Obwohl erst 14 Jahre alt, zählt sie bereits zu den „Horrorveteranen“, war Ferland doch schon in Tideland, Silent Hill, The Messengers und Seed zu sehen. Ihre prominenten Co-Stars Ian McShane („Deadwood“, Scoop) in der Klischeerolle als alternder, nihilistischer Cop und Shootingstar Bradley Cooper (Hangover) als farbloser bester Freund von Emily machen immerhin das Beste aus ihren undankbaren Figuren.
Abschließend muss auch die Frage erlaubt sein, warum Alvart die hochbrisante Missbrauchsthematik, die er in der ersten halben Stunde glaubwürdig anreißt, zu Gunsten einer vordergründigen Schockermär aufgibt und letztlich der Lächerlichkeit preisgibt. Der Hass auf Lilith, den „Fall 39“ beim Zuschauer heraufbeschwört, gipfelt in einer geschmacklosen Sequenz, in der Judith in Panik den Goldfisch aus ihrem brennenden Haus rettet, das rasende Mädchen aber eiskalt zurücklässt. In diesen Passagen gerät „Fall 39“ zu einem spekulativen Exploitation-Schauerstück, das dem anfangs solide aufgebauten Thriller-Setting die Glaubwürdigkeit raubt. Darüber rettet auch der packende, rasant inszenierte Showdown nur bedingt hinweg.
Fazit: Der Starttermin von „Fall 39“ wurde seit mehr als eineinhalb Jahren immer wieder verschoben. In den USA wird der Film trotz seiner Stars wohl nur auf DVD erscheinen. Und das hat auch seinen Grund. Christian Alvarts solide inszenierter und leidlich spannender Reißer um ein abgrundtief böses Mädchen verlässt sich zu sehr auf vordergründige Schockeffekte, ohne dem Genre originelle Facetten abzugewinnen. Mit einem für den 1. Oktober 2009 angepeilten Termin sitzt mit dem Science-Fiction-Thriller Pandorum bereits ein weiterer US-Film von Alvart in den Kinostartlöchern. Vielleicht kann der ohne Frage talentierte und nun auch mit den Spielregeln Hollywoods vertraute Regisseur hier dann sein ganzes Können ausspielen.