Wer schon eines hat, wird es bestätigen können: Ein Kind zu bekommen und es großzuziehen, bedeutet den Beginn eines neuen Lebensabschnittes und gravierende Veränderungen. Ein paar Einschränkungen der persönlichen Freiheit inklusive, die besonders dann schwerwiegend sind, wenn man alleinerziehend ist. Was aber, wenn die/der Alleinerziehende zusätzlich selbst noch fast ein Kind ist? Dies thematisiert die Milieustudie „Lucy“ von Henner Winckler („Klassenfahrt“), in dem die Geschichte eines 18-jährigen Mädchens mit Baby erzählt wird. Auf feinfühlige und völlig undramatische Weise wird das Portrait einer sehr jungen Mutter gezeichnet, das sie sowie ihre Lebenswelt aus der Position eines außenstehenden Beobachters darstellt und dabei auf eine stark konstruierte Handlung verzichtet. Entstanden ist ein Film, der den Alltag so abbildet, wie ihn wohl viele Menschen gefühlt wahrnehmen: einfach so dahin plätschernd und ziemlich farblos.
Mutter werden ist nicht schwer, Mutter sein dagegen sehr. Das muss Maggy (Kim Schnitzer) am eigenen Leib feststellen, nachdem ihr Freund Mike (Ninjo Borth) sie mitsamt dem gemeinsamen Baby Lucy (Polly Hauschild) hängen gelassen hat. Bei ihrer Mutter (Feo Aladag) lebend versucht sie sich mehr schlecht als recht durch den Alltag zu wursteln und trotz des Kindes ihren Freundeskreis und ihre eigenen Bedürfnisse als Teenager nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie den nicht viel älteren aber sehr verständnisvollen Gordon (Gordon Schmidt) kennen lernt, beschließt sie, zu ihm zu ziehen und ein Leben als erwachsene und verantwortungsvolle Mutter zu führen. Gordon willigt ein und nimmt die beiden auf. Doch schon nach kurzer Zeit beginnt das junge Glück zu bröckeln, häufen sich die Konflikte zwischen dem jugendlichen und unverbindlichen Lebensstil Gordons und Maggys Vorstellung von einer Familie.
Um es gleich vorweg zu nehmen: „Lucy“ ist ein ruhiger, unspektakulärer und zuweilen wortkarger Film, der weniger auf eine ereignisorientierte Handlung als vielmehr auf die gefühlte Wirklichkeit der Protagonisten setzt. Winckler erhebt nicht den Anspruch, den sozialrelevanten Stoff auf möglichst drastische Art in Szene zu setzen, sondern will den Alltag von Menschen in weniger gut situierten Positionen so abzubilden, wie er sich in den Augen des Regisseurs abspielt: eigentlich voll von prekären Situationen und Entscheidungen, denen aber oft aus dem Weg gegangen wird. Dadurch entsteht bei den Akteuren ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit und Regungslosigkeit, das jeden Moment in die totale Starre zu laufen scheint. Doch letztlich geht es immer weiter – irgendwie jedenfalls. So wie im richtigen Leben halt. Die Personen im Film kehren an nur ganz wenigen Stellen ihre innersten Gefühle nach außen, wirken die meiste Zeit verschlossen, kühl und beherrscht. Die eigenen Emotionen verbal auszudrücken, will eben auch gelernt sein. Da aber Maggy mit ihrer Mutter nur selten redet, bleibt sie oft sprachlos, scheint überrumpelt von den Geschehnissen und Herausforderungen, die ihr tagtäglich widerfahren. Trotz der wenigen Mittel schafft es der Film, eine Identifikation des Zuschauers mit den Hauptdarstellern herzustellen, denn irgendwann fühlt sich jeder einmal überwältigt und sprachlos. Es ist die ausgesprochene Stärke des Films ein Gefühl zu erzeugen, das jeder kennt und dem Maggy durch ihre misslich erscheinende Lage ständig ausgeliefert ist.
Wie nahe das sehr schweigsame Bild von Jugendlichen an die Realität heranreicht, kann diskutiert werden. Anfangs dankt man Winckler, der am Drehbuch zu „Lucy“ mitgeschrieben hat, dass er seinen Hauptdarstellern nicht ständig flotte Sprüche in den Mund legt, dass er die Welt von Jugendlichen von einer Seite zeigt, die sie verklemmt und ohnmächtig darstellt. Dies dürfte wohl der Realität in vielen Fällen sehr nahe kommen. Zum Ende des Films hin fragt man sich jedoch, ob diese Kontinuität der Sprachlosigkeit, nicht hätte aufgebrochen werden können, um Entwicklungen zu zeigen, die ja möglich sind. Auch im realen Leben. An einigen Stellen hätten mehr Redeanteile den Film wohl noch intensiver wirken lassen, hätten mehr Informationen über die Charaktere diese dem Zuschauer noch näher gebracht. Leider bleiben einem viele Zusammenhänge verschlossen, z. B. woher Gordon, der sein Leben mit einem Kellnerjob in einem Club sowie mit dem Verkauf von „Elektronikzeugs“ übers Internet finanziert, die Festplatten, Speicherbausteine und anderen Elektrokomponenten herbekommt. Vertickt der so anständig wirkende junge Mann etwa Heiße Ware? Leider verpasst der Film an einigen Stellen die Chance, ein ambivalenteres Bild seiner Figuren zu entwickeln.
Außerordentlich überzeugend aber stellt der Film die Hin- und Hergerissenheit von Maggy und Gordon dar. Auf der einen Seite wollen sie erwachsen werden, Verantwortung für ein Kind übernehmen; auf der anderen sind sie selbst noch dabei sich auszuprobieren, wissen nicht, in welche Richtung es gehen soll. Maggys Mimik – sie kneift mit wahrer Inbrunst den gesamten Film über die Lippen zusammen, so als wolle sie ihre Sprachlosigkeit verbergen – transportiert diese Zerrissenheit sehr ansehnlich. Durch Baby Lucy bleibt ihr als einzige Verbindung zur Außenwelt oft nur das Handy, das sie unaufhörlich benutzt, um sich dem Kontakt ihrer Freunde zu versichern. Nach diesem Film wundert sich keiner mehr, warum heutzutage so viele Jugendliche in der Handyschuldenfalle stecken.
Alltag im Kino – Wincklers Realismusanspruch und die daraus resultierende Stille in seinem Film „Lucy“ ist sicherlich nicht jedermanns Sache, denn für viele ist gerade das Kino der Ort, wo man dem Alltag zu entfliehen sucht. Da der Ansatz aber schlüssig und bündig umgesetzt wurde – gerade das Ende fügt sich sehr logisch dem gesamten Film an – und weil die Milieustudie ein wichtiges Thema anspricht, dem Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, ist „Lucy“ zu empfehlen.